Record of the Week

Antonio de Luca „Musik Wozu“

Antonio_De_Luca_MusikWozuAntonio de Luca
„Musik Wozu“
(Hauch Records)

Ein gutes Jahrhundert ist es her, dass Igor Strawinsky mit der Uraufführung seines „Le sacre du Printemps“ im Pariser Théâtre des Champs-Élysées einen Tumult ausgelöst hat. Es kam zu wüsten Ausschreitungen und Prügeleien, 27 Menschen sollen seinerzeit verletzt worden sein. Seither hat sich viel getan in der Welt der sogenannten klassischen Musik. Minimal Music, Musique concrète und Neue Musik haben die Hörgewohnheiten drastisch verändert, selbst mit einem elektronisch verstärkten Schlagbohrer als Rhythmusinstrument bekommt man heutzutage niemanden mehr ernsthaft geschockt, hätte man meinen können.

Doch weit gefehlt. Es sind seltsame Zeiten, und die Kleingeister und Idioten sind nicht nur in den Kommentarspalten unterwegs, sondern gehen auch ins Konzerthaus. Was Mahan Esfahani unlängst in der Kölner Philharmonie erleben musste, war „ein Pandämonium eines Ausmaßes, das ich in einem Konzertsaal für klassische Musik noch nie erlebt habe”, schrieb der Musiker einen Tag später. Aufgrund von wütenden Zwischenrufen und lautstarken Äußerungen des Missfallens musste der iranische Cembalist seine Darbietung von Steve Reichs „Piano Phase“ in der Kölner Philharmonie unterbrechen.
Was für ein Heidenspaß es wäre, diese Brüllaffen mit „Musik wozu“ von Antonio de Luca zu konfrontieren.

Antonio_De_Luca_Borowski

Zwar spielen Harmonie und Wohlklang auf dem Album des Kölner Autodidakten, Filmmusikkomponisten und Mitglied der sich allen Genreeinordnungen widersetzenden Band Colorist eine große Rolle. Gleichzeitig werden aber auch Störgeräusche, seltsame Field Recordings, und andere obskure Klänge, deren Quelle sich oft nicht genau ausmachen lässt, eingesetzt. Ein Großteil der zehn Stücke ist Klavierbasiert, das Instrumentarium wird um Ukulele, Cello, Geigen sowie diverse Synthesizer und selbstgebaute Krachmacher ergänzt.

Antonio_De_Luca_PicMit den sogenannten „Neuen Meistern“, die sich derzeit im weiten Feld zwischen elektronischer und klassischer Musik abarbeiten, hat Antonio de Lucas Musik jedoch nur bedingt zu tun. Wo Nils Frahm den Hörern durch dezent eigesetztes Knarzen, Brummen oder Fiepen eine gewisse Freigeistigkeit und Radikalität vorgaukelt, die sich aber nur innerhalb sorgfältig kalkulierter Grenzen bewegt, sucht der gebürtige Neapolitaner durchaus Momente echter Irritation. Immer wieder schälen sich wunderschöne Melodiepartikel heraus, die manchmal für ein paar Minuten in der Luft liegen dürfen, teilweise aber auch abrupt abgewürgt oder durch Störgeräusche konterkariert werden. Mit Improvisation hat das nur bedingt zu tun. Obwohl er selbst keine Noten lesen kann, hat er sich mehrere Gastmusiker ins Studio gebeten, denen er statt Noten eben Effektketten als Vorgabe programmiert hat. Dass die Studioarbeit mit Antonio de Luca mitunter abenteuerlich sein kann, weiß der Autor dieser Zeilen aus eigener Hand, wir haben auch mal gemeinsam an einem Musikstück gearbeitet.

CAMP INC. with COLORIST – perché la notte from paradies on Vimeo.

Seinerzeit kam Antonio mit seiner Ukulele im Studio vorbei und fing an, auf eine sehr langsame Acid-Bassline zu improvisieren. Er spielte sicher schon an die zwei Stunden, ehe sich allmählich eine ätherische Melodie herausschälte, die für gut befunden wurde. Gleich danach fiel sinngemäß ein Satz wie: „So, jetzt haben wir Harmonie. Was wir auch noch brauchen ist Zerstörung, sonst ist das zu zahm.“ Das Stück mündete in einer wüsten Feedbackorgie. Wie all diese Sounds aus einer Ukulele herauszuholen waren, habe ich bis heute nicht so ganz verstanden. Es spielt aber auch keine Rolle.

Auch „Musik wozu“ ist ein Album, das gegenläufige Stimmungen synchronisiert und sich nicht ausruht auf einer guten Melodie oder Hookline. Wie all diese interessanten Geräusche aus den Instrumenten herausgeholt werden, muss man nicht zwingend nachverfolgen können. Man kann es sich aber anschauen. Denn der Liveumsetzung wird gerade gearbeitet. Am 26. Mai ist das erste Konzert im Kölner Stadtgarten im Rahmen der Experimentalmusikreihe „Sounds Wrong, Feels Right“. Es wird im besten Sinne ein Pandämonium erster Güte. Sie sollten da unbedingt hinkommen, sofern sie kein Idiot sind.

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