Record of the Week

Grimes “Art Angels”

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“Art Angels”
(4AD/Beggars)

Entgegen meiner sonstigen üblichen Verehrung für Gesamtkunstwerke (= Pop in Sound & Vision) finde ich es bei Grimes eher kontraproduktiv, dass die kanadische Musikerin gerade allüberall als Covergirl, Chanel-Model, etc.pp zu sehen ist. Das führt nämlich unter anderem zu kleinlichen Beschwerdeäußerungen: „Art Angels“ erfülle aus diesen oder jenen Gründen nicht diese oder jene Erwartungen, die man (konkretes Beispiel: Rezension bei Spiegel online „Abgehört“) an dieses Album ja schließlich gehabt hat, nicht zuletzt wegen des langen Vorlaufs der Veröffentlichung mit entsprechender Vorab-Berichterstattung. Und weiter noch: Claire Boucher alias Grimes sei halt doch nicht Madonna, ihr Sound nicht state-of-the-art, die Songs nur angedeutete Hits ohne Einlösung in Form mainstreamkompatibler Produktion.

Genau so ist es. Grimes macht keinen Mainstream-Chartspop, zum Glück, füge ich mal vorsichtshalber an. Aber es scheint so zu sein: Dem Vorgängeralbum „Visions“ von 2012 attestiert man wegen des Aufeinanderprallens beziehungsweise Nebeneinanders von Experimentellem und Pop avantgardistischen Charme, aber „Art Angels“ soll doch jetzt bitteschön so glatt und glossy klingen wie Beyoncé und Rihanna, für die sie ja immerhin schon mal einen Song komponiert hatte.

Sehr viel klüger ist Jessica Hoppers Sichtweise (siehe ihre Rezension in Pitchfork): Dass Grimes als Projekt von Claire Boucher (Trennung der Personale!) die ultimative Fangirl-Studie ist; dass die DIY-Musikerin mit Punkgeschichte als Grimes ihrer Liebe zum Superpop á la Katy Perry, Mariah Carey freien Lauf lässt – und so die Verbindung herstellt zwischen dem, was sie bewundert und dem, was sie selbst kann und tut. Und darauf verweist Grimes sehr deutlich: „I’ll never be your dream girl“ singt sie in „Butterfly“, oder, als Interpretationshilfe: „If you’re looking for harmony / There’s harmony in everything“. Heißt: Wer aufgrund des „unfertigen“ „Visions“ bei „Art Angels“ auf „vollständige“, polierte Convenience-Musik hofft, wird enttäuscht.

Das in punkto Sound sehr wohl aufpolierte, enhancte „Art Angels“ schillert vor Details: Neunzigerjahre-Elektropop-Hooks, heliumgepitchte Vocals, Eurodance, Ethno-, Disco- und Tribal-Beats, Rockgitarren, Growling, taiwanesischer Rap – nicht als pompös-ironische Zitate wie bei Lady Gaga, sondern als Demonstration dessen, was es alles gibt und was man alles machen kann. Das muss nicht zwanghaft nirgendwohin führen, schon gar nicht in einen Hit! münden.
Andererseits: Songs wie „Belly of the Beat“, “Kill V Maim” oder die Ballade “Venus Fly” mit Gastsängerin Janelle Monae sind so hittig wie nur irgendwas, zumindest wenn man ohne Schablone im Kopf zuhört.
Worauf Jessica Hopper ebenfalls hinweist und was „Art Angels“ eklatant von Mainstream-Produktionen vor allem weiblicher Acts unterscheidet: These are no Love songs. Grimes ist kein „dream girl“ und hier gibt es auch keine „dream boys“. „California“ zum Beispiel wettert gegen die Musikindustrie, nirgends finden sich Varianten allfälliger romantischer Klischees, sondern feministische fuck-you-Attitude. Ach, vielleicht ist es doch ganz gut, dass Grimes gerade überall zu sehen ist. Damit die Leute besser hinhören.
Christina Mohr

Ich setze mich heute mal wieder ins gemachte Nest der schon von Christina Mohr verfassten Rezension und antworte ihr auf dem Weg des größten Widerstands (der hier, anders als im Leben, ja der einfachere ist).
Ich muss mich den kleinlichen Beschwerdeäußerungen der von Mohr zitierten Pressestimmen anschließen. Natürlich ist es Quatsch, Grimes vorzuwerfen, sie klänge nicht genug nach Beyoncé. Außer sie versuchts. Und genau das ist hier leider teilweise der Fall. „Chicago“ soll doch wohl offensichtlich musikalisch irgendwie so was sein wie „Single Lady“. Bei solchen Beats ist aber der Witz, dass eine gewisse menschelnde Trommelgruppenenergie elektronisch nachgebaut wird. Bouchers Nachbau dieses Nachbaus ist aber steif und kalt und eckig. Das liest sich jetzt vielleicht wie ein interessanter Bruch. Es hört sich aber nicht so an. Es passt einfach auf eine nicht so gute Art nicht. Den Vorwurf, an Grimes unlautere Forderungen zu stellen, muss man leider Grimes selbst machen. Sie fordert von sich, Madonna zu sein. Dabei ist sie in Wirklichkeit Björk. Sie will von sich Hits statt der alten verstrahlten Mondkantaten, die einem ironischer Weise nicht aus dem Kopf gehen, während die Hits an einem vorbeirauschen. Zumindest an mir. Zumndest die meisten. Die Songs, die am ehesten nach dem Mangamäßigen Plattencover klingen, wie das Elektrotrashrockige “Kill V Maim” und das taiwanesisch gerappte „SCREAM“, gefallen mir schon. Und „Venus Fly“, das Lied mit Janelle Monae, muss ich ganz von der Kritik ausnehmen. Es ist cheesy und verrückt und hittig und artsy, alles was die alte Platte war und die aktuelle wollte auf einmal. Wenn es so weiter geht, dann juhu. Wenn.
Jens Friebe

 

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