Record of the Week

Electric Indigo “5 1 1 5 9 3” – Entschlüsselung einer Sensation

Cover_EIElectric Indigo
“5 1 1 5 9 3”
(Imbalance Computer Music) 

Es gibt einige Gründe, warum eine Veröffentlichung als relevant genug gelten kann, um vom musikjournalistischen Betrieb wahrgenommen zu werden. Es kann an der Künstler_in selbst liegen, am Label oder an der generellen sozialkulturellen Einbettung, wenn die Arbeit aus thematischen oder ästhetischen Gründen den Zeitgeist trifft – im besten Fall ist es auch noch ein gutes Album im Sinne von guter Musik.

Und manchmal kommt in Ausnahmefällen alles zusammen: die Künstler_in macht neugierig, hat Charakter, bringt eine interessante Geschichte mit, bewegt sich in einem spannenden Umfeld, trifft zeitgemäße Themen. Die musikalische Arbeit weist stil- und produktionssicher über ihr Genre hinaus und wird von einem crediblen Label veröffentlicht. Um die Dinge nicht zu romantisch zu betrachten, ein wesentlicher Grund ist natürlich auch eine laufende Maschinerie: ein realistisches Budget und funktionierenden Strukturen sollte man im Hintergrund eines ernst gemeinten Releases auch vermuten dürfen. Dieses Best-Case-Szenario klingt nach einem theoretischen Entwurf, doch es gibt sie, diese Fälle. Erinnern wir uns zuletzt an Holly Herndon oder Jlin, die nicht ohne Grund mit einer geradezu irrationalen Menge an Aufmerksamkeit überschüttet wurden, sondern eben wegen genau dieser speziellen, magischen Summe aller Gründe. Von vergleichbaren Kräften getragen, kündigt sich seit einigen Wochen “5 1 1 5 9 3” von Electric Indigo an.

Der Name Electric Indigo ist untrennbar verwoben mit der Geschichte von Techno. Die seit jeher zwischen Berlin und Wien pendelnde DJ und Produzentin ist seit Anbeginn der Bewegung dabei und veröffentlicht bereits seit 1993 selbst Platten. Wie lange sie ihrem Weg mit der elektronischen Musik treu geblieben ist, liest sich als Indiz für ihre Disziplin und aufrichtige Leidenschaft, die musikalische Beschäftigung mit experimenteller Clubmusik der ehemalige Hardwax Mitarbeiterin (einem Plattenladen mit ausgewiesener Expertise in Sachen schroffer, ernsthafter elektronischer Musik: Muckelige House-Grooves und freudvollen Wohlfühl-Techno kann man hier nicht bekommen) als Hinweis für ihre ernsthafte künstlerische Intention.

Neben den eigenen Live-Club-Performances und DJ-Sets entwickelte Electric Indigo in den vergangenen Jahren Konzertprogramme und elektronische Kompositionen im Bereich der Neuen Musik und experimentellen Advantgarde, zuletzt auch technisch komplexe Multichannel-Performances und die Verwebung von Klang und Bild in A/V Projekten.

Es ist nicht nur Kontext. Electric Indigo ist auch in Persona diese Verbindung aus aufrichtiger Leidenschaft und schonungsloser Ehrlichkeit. Auf den ersten Blick eine kleine, zierliche Person, stilstisch gradlinig, geschmackvolle minimalistische Garderobe, welliges Haar auf rasiertem Undercut. Ein strahlender Gesichtsausdruck, ansteckendes Lachen, gepaart mit blauen Augen, die mit naturwissenschaftlicher Präzision fokussieren können. Ihr Blick hat etwas forschendes, fragendes. Ohne Zweifel faszinierend, strahlt Electric Indigo gleichsam Freude und Ernsthaftigkeit aus. Vielleicht ist es auch jene Freude, die nur durch Ernsthaftigkeit entstehen kann.

Und dann ist da natürlich noch das kulturpolitische Engagement von Electric Indigo. Sie ist Gründerin und der technische Kopf von female:pressure, jenem seit nunmehr 20 Jahren existierenden Netzwerk von Künstlerinnen in der elektronischen Musik und digitalen Kunst. Intention des Netzwerkes sind die Verdrahtung und Sichbarmachung von urspprünglich Frauen, heute aber immer mehr unterrepräsentierten Gruppen in der Männerdomäne der elektronischen Musik. Die Mitglieder sind über eine Mailingliste miteinander verbunden, nach außen repräsentiert das Netzwerk eine von Electric Indigo programmierte Webseite und Datenbank für Künstlerinnen – jede kann hier nach Protagonistinnen der Szene suchen.

Nach gut 30 Jahren Werdegang kommt nun ihr Debut-Album, alleine das grenzt an eine Sensation – nach all den Jahren (und es hat selten soviel Sinn gemacht, denn Subtext so unverblühmt hinzu zu fügen). 

”5 1 1 5 9 3 “erscheint auf Imbalance Computer Music, dem 1997 im Umfeld von Basic Channel gegründeten und von Robert Henke (alias Monolake und Ableton-Mitbegründer) betriebenen Label, das vergleichbar mit der Geschichte der elektronischen Musik verwurzelt ist wie Electric Indigo selbst. Imbalance Computer Music versteht sich nicht als Label im klassischen Sinne, sondern als “a construction which allows us to release our own works and music from close friends. We have no intention to release other artists on this label.”

Es brutschelt, rasselt, knistert und brodelt auf “5 1 1 5 9 3”, atmosphärisch und ambient. Die Sounds summieren sich dabei nicht zu einer diffusen, nebligen Summe, sondern bleiben jederzeit präzise und klar definiert. Kein Layering von Soundschichten in ihrer Breite, vielmehr Layout und Satz von Frequenzen. Das macht es installativ, skulpturell, advantgardistisch. Es steckt viel Geräusch in den Stücken – das Klirren von Glas, das Wummern von Unwettern und  Sprengungen, das Gerollen und Rieseln von sich bewegenden Gesteinsmassen unterschiedlicher Dichte. Aber auch jenes Geräuschspektrum aus Lärm und Noise wie man es aus der experimentellen Musik kennt.

Man kann sich in der Atmosphäre von “5 1 1 5 9 3” geradezu versenken und die Töne beim kommen und gehen betrachten, ihre Beschaffenheiten erkunden. Das Verhältnis aller Klänge zueinander ist von beeindruckender Genauigkeit, die Töne überlagern sich nicht, sondern sind exakt gesetzt – und dies so exakt dass sie selbst dynamisch über die Zeit des Albums jederzeit perfekt im Raum platziert sind. Beeindruckend stimmig abgemischt.

Die Kompositionen von Electric Indigo folgen erkennbaren Strukturen und Rhythmen, bis hin zu tanzbaren Beats. Und das war Electric Indigos Sound schon immer, tanzbar und gedacht (gerne auch klug). Während bei vielen anderen zeitgemäßen experimentellen Veröffentlichungen mit Club-Referenzen die Präzession oft zu kurz kommt, verzichtet Electric Indigo nicht auf Zuverlässigkeit (vielleicht der Einfluss ihres Clubhintergrunds). Was die Produktion aber noch gewollter, noch gedachter wirken lässt.

Die Strukturen halten zusammen auf “5 1 1 5 9 3”, was dem brutalistisch anmutenden “Ntandathu” ebenso gut tut wie den atmosphärischen “Observations” oder dem intensiven “Second Organ”. Besonders deutliche Strukturarbeit leisten die Beats auf “4_31Hz” oder “Exkursion”, sie stabilisieren und holem auf den Boden zurück, statt sich in der abstrakten Unendlichkeit zu verlieren.

Das Debut-Album von Electric Indigo atmet Background, Erfahrung und künstlerische Expertise, umarmt Clubkultur und die Advantgarde. »5 1 1 5 9 3« belegt, dass Techno nicht dumm und akademisch verortete Musik nicht unhörbar ist. Gut, dass sie sich mit ihrem Debut soviel Zeit gelassen hat.
Sonia Güttler

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