Die Mehrheit als Sekte V

Die Stadt als Unternehmen

Im Herbst ist Bundestagswahl. Das politische Koordinatensystem ist jetzt schon zerbröselt, ganz gleich, ob es für Merkels vierte Amtsperiode doch noch reicht oder Martin Schulz die SPD tapfer über zwanzig Prozent hält. Wer die Gründe fürs Zerbröseln sucht, darf nicht da suchen, wo sich lautstark darüber beklagt wird – im Politikbetrieb.
In einer Serie, die monatlich bis zur Bundestagswahl fortgeführt wird, analysiert Felix Klopotek die »Politik der Mitte«, in der sich Aufstieg und Niedergang der politischen Moral exemplarisch verdichten.

Die Stadt als Unternehmen
Die Wette gilt: Wenn in fünf oder zehn Jahren über den Fall Andrej Holms gesprochen wird, wird es nicht mehr um seine von ihm beschönigte Stasi-Vergangenheit gehen. Es wird der Zeitgeschichte dann offensichtlich sein, dass der Staatssekretär Holm Opfer der Immobilienbranche und ihrer Interessen, die die herrschende Politik wie selbstverständlich als Interessen des Gemeinwohls ausgibt, wurde. Damit soll hier nicht Holms leichtfertiger Umgang mit seiner wenn auch kurzen Karriere im gnadenlosen Repressionsorgan eines preußisch-vermufften Obrigkeitsstaates gerechtfertigt werden. Aber dass seine Biographie einfach zu wenig Stoff für den ganz großen Skandal hergibt, dass dämmert bereits jetzt den Kommentatoren. Die klugen unter ihnen, wie der Ex-Maoist Götz Aly, den man nicht mögen muss, der aber immer weiß, wovon er spricht, haben in ihrer Polemik gegen Holm denn auch nicht auf die Stasi-Connection rekurriert, sondern etwa in Holms basis-sozialistischen Äußerungen der letzten Jahre Hinweise entdeckt (Texte liest man heutzutage nur noch unter erkennungsdienstlichen Gesichtspunkten, nicht wahr?), dass Holm eine Subversion und letztlich Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols vorschwebt. Damit stünde Holm an der Schwelle zur Revolutionsfrage (die zu stellen schon verboten ist) – und mitten in einem Riesendilemma. Denn was tut eigentlich der Linksradikale als Staatssekretär? Gute Frage. Eine politische Antwort darauf wird es nicht mehr geben.

Den politischen Konflikt, den man ausfechtet, bis Wahrheit gegen Macht steht, lässt der Neoliberalismus nicht zu. Politik ist ersetzt durch Verwaltung und Management. Moral heißt Compliance – und daran lässt man Holm scheitern. Wie klein der Spielraum für eine linke Politik, und sei sie auch bieder-brav staatsförmig (es gibt derzeit und in naher Zukunft keine andere linke Politik als bieder-brav staatsförmige), haben wir also in Berlin, dem angeblich linken Labor der Republik, demonstriert bekommen. Bitte notieren, wir neigen heutzutage doch zur forcierten Vergesslichkeit.
Die folgenden Überlegungen gehen der Frage nach, was die Verwandlung von Politik in Management für die Stadt bedeutet. Staatssekretär Holm hätte daran nichts ändern können, aber er hätte die Frage aufrechterhalten.

In seinem vielzitierten, aber vermutlich doch kaum gelesenen Text »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften« unterscheidet Gilles Deleuze das Unternehmen von der Fabrik: »Die Fabrik war ein Körper«, »Die Fabrik setzte die Individuen zu einem Körper zusammen«, sie war errichtet »im Milieu der Einschließung«, die Menschen in ihr, also die Arbeiterinnen und Arbeiter, waren »diskontinuierliche Produzenten von Energie«.
Das Unternehmen dagegen ist »eine Seele, ein Gas«, die Menschen in ihnen sind eher »wellenhaft«, »in einem kontinuierlichen Strahl, in einer Umlaufbahn«. Das Unternehmen »verbreitert ständig eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation«, »zum Zentrum … des Unternehmens ist die Dienstleistung des Verkaufs geworden«.

Der Unterschied ist grundlegend. Deleuze‘ Notizen sind aphoristisch zu verstehen, aber das ist schon gut genug. Am Grunde seiner Überlegungen zur Kontrollgesellschaft beobachtet er den Wandel der Organisationsform des Kapitals. Man kann auch sagen: Das Unternehmen nimmt die Fabrik in sich auf. Man spricht von Unternehmenskultur und Unternehmenspolitik, jedoch nicht von Fabrikkultur und Fabrikpolitik. Die Fabrik ist klar als abgeschlossenes Gebilde zu erkennen, in der Regel von hohen Mauern umgeben, die Prozesse, die in ihr stattfinden, für den Alltag unsichtbar gemacht. Fabriken und ihr Umfeld – Lagerhallen, Zulieferer – siedelten in den Innenstädten: Das Stahlwerk Oberbilk befand sich an der östlichen Seite des Düsseldorfer Hauptbahnhofs, die Chemische Fabrik Kalk hatte einen ganzen Kölner Stadtteil definiert, zwischen der Brüsseler und der Antwerpener Straße – also mitten in Kölns hippstem Ausgehbezirk – befand sich eine Lagerhalle für Maschinenteile von Siemens. Die Beispiele sind willkürlich aus der Alltagsrealität des Autors herausgegriffen, jeder mag die Liste für seine Stadt ergänzen.

Trotz ihrer räumlichen Zentralität waren die Fabriken aber nie in die Städte integriert, sollten sie auch gar nicht – auf so einen Begriff wäre man eh nie gekommen –, sondern abgekapselte Einheiten, die wie selbstverständlich Menschen und Material einsogen und ausspuckten. Die Fabrik als Produktionsstätte gab den Puls der Stadt vor – Transportwege, Wohnquartiere für die Arbeiter, die Institutionen der Reproduktion, Schulen, Freizeitheime, Krankhäuser, Altenheime, die Verwaltung, ebenfalls zentralisiert, die den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit in Schach zu halten hatte. Keine Verknüpfung und Verschachtelung der städtischen Raster, sondern ihre rationale Anordnung ausgerichtet an der Linearität der Ausbeutung.

Unternehmen setzen auf Transparenz, gläserne Bürotürme, architektonisch visionäre Verwaltungsgebäude, großzügige Repräsentation, zerstreute Produktionsstätten, Auszug aus den Innenstädten. Räumliche Trennungen scheinen keine Rolle mehr zu spielen. Es ist, als ob die Fabrik nicht mehr länger Menschen und Material einsaugen würde, sondern gleich die ganze Gesellschaft: In ihr gelten jetzt Marktbeziehungen – die Abteilungen kaufen voneinander ihre jeweiligen Teilprodukte, in ihr gelten Moralvorschriften und Antikorruptionsregeln, die Sorge um sich selbst, die Menschen Sport treiben und Diäten halten lässt, kehrt im Unternehmen wieder als Zwang zur Selbstoptimierung, die Freundesclique ist ersetzt durch das Team, mit dem man die Wochenenden auf dem Survival-Trip verbringt, das Unternehmen bekennt sich zu gesellschaftlichem Engagement und fördert zeitgenössische Kunst, es verfügt über gigantische Pensionskassen und steuert damit die Altersvorsorge ihrer Untergebenen. Gesellschaftliche Aktivitäten, die bislang außerökonomischen Kräften zugewiesen waren, werden von den Unternehmen selbst übernommen. Oder zumindest simuliert.

Denn natürlich verharrt das, was hier gerade skizziert wurde, immer im prekären Status des Scheins, erweisen sich all die behaupteten gesellschaftlichen Funktionen als Bestandteil des Produktivkraftmanagements, die immer dann, wenn die Plusmacherei ins Stocken gerät und die nächste Krise aufzieht, sofort zur Disposition stehen.
Wenn sich die moderne Stadt heute als Unternehmen definiert, dann ist das zuvorderst eine Unterwerfung: Es ist das Unternehmen, dass die Stadt als sein Anhängsel definiert – als Kreuzung von Transportwegen, als Reproduktionsort seiner angeheuerten Arbeitskräfte, als Absatzmarkt. Nachdem die Stadt also allen Widerstand gegen die Subsumptionskräfte der expandierenden Kräfte aufgegeben hat, definiert sie deren simulierte Gesellschaftlichkeit als ihr eigenes Ideal. Die »Stadt als Unternehmen« heißt nicht, dass man pfiffigerweise kühnes Management-Handeln in die oft träge Verwaltung injiziert, sondern dass man den Imperativen der Unternehmen bedingungslos zu folgen bereit ist. Das Prinzip des Unternehmens verwirklicht sich auch außerhalb des Unternehmens und kommt darin zu sich selbst.

Die Strategie der Unternehmen, nicht mehr länger Teil der Gesellschaft zu sein, sondern Gesellschaftlichkeit selbst zu definieren, erweist sich für den städtischen Raum als knallharte Segregation: die Stadt ist nicht länger Bühne kapitalistischer oder kapital-vermittelter Aktivitäten, sondern wird selbst zur Produktivkraft, ihre Elemente – Wohnquartiere, Straßen und Plätze, Grundstücke, natürliche Gegebenheiten – sind Funktionen des Kapitals und als solche sind diese wiederum selbst disponibel, sind in ihrer Bedeutung nicht fixiert: sie sind also Spekulationsobjekte, werden auf Märkten gehandelt. So ist die Stadt nicht nur Produktivkraft, sondern gleichzeitig auch Markt. Wer sich als Teil der Produktivkraft wie auch als Marktteilnehmer nicht als tauglich erweist, ist von Ausschluss bedroht, ist nun nicht länger Objekt eines Unternehmens, sondern Objekt der Verwaltung, die die Ausgeschlossenen und Ausgestoßenen unter Kontrolle halten muss. Die Freiheit der Unternehmen produziert die restriktive Ordnung und Sortierung der Menschen, damit sich diese Freiheit eben weiter entfalten kann.

In der Realität erweist sich das widerspruchsvoller Prozess. Der Prozess der Verwandlung der Fabrik in ein Unternehmen, der Verwandlung der Stadt in eine Produktivkraft und der Verwandlung von Arbeitern in Träger des Geistes ihrer Unternehmenskultur ist keine Verwirklichung einer Dystopie: Nach dem Massaker in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo und in einem jüdischen Pariser Supermarkt brandete schnell die Diskussion über die Vorstadtghettos als Brutstätten von Islamismus und also Terrorismus auf. Im Mittelpunkt stand damals wieder einmal Saint-Denis. Im Horizont einer Dystopie wäre dies ein Ort Nutzlosen und Perspektivlosen, die nur die Wahl zwischen staatlicher Armutskontrolle und islamischem Selbstermächtigungswahn hätten. Die Ankündigungen regierungssozialistischer Politiker die Apartheid in den Vorstädten zu durchbrechen lesen sich in dieser Perspektive geradezu revolutionär: Premierminister Manuel Valls forderte eine neue Siedlungspolitik, um angeblich geschlossene postmigrantische Milieus aufzubrechen. In den Innenstädten sollen wieder mehr Sozialbauwohnungen errichtet werden, und wohlhabenderen Familien in den Vorstädten soll nicht mehr gestattet sein, ihre Kinder auf Schulen in besseren Vierteln zu schicken. Diese Maßnahmen verfehlen aber völlig die Dynamik, die eine Gemeinde wie St.Denis – und nicht nur diese – prägen: Es sind Arrival Citys, Schleusen der Einwanderung – von anderen Ländern nach Frankreich; vom Land in die Stadt. 61 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Saint-Denis ziehen nach neun Jahren um, die meisten von ihnen, weil sie einen sozialen Aufstieg gemeistert haben. Die Logik der Segregation hebt sich permanent selbst auf.

In einer Reportage aus Saint-Denis hält der Journalist Georg Blume fest:
»Es herrscht Schwellenland-Dynamik. Die große Fußgängerzone zwischen Bahnhof und der fast tausend Jahre alten Kathedrale ist von morgens bis abends von illegalen Kleinhändlern beschlagnahmt, die Kleider, Mobiltelefone und Zigaretten verticken. Das alles findet am Rande der Legalität statt, wirkt arm und hart. Aber die Atmosphäre ist zugleich lebendig und kraftvoll, strahlt Tüchtigkeit aus. (…)
Viele Einwanderer lassen sich in Städten wie Saint-Denis nieder, um kleine Handelsgeschäfte mit ihrer früheren Heimat aufzubauen. Oft starten sie mit illegal eingeführter Ware und mit Angestellten, die offiziell arbeitslos gemeldet sind. Doch sie schaffen damit, was Frankreich heute am meisten fehlt: Kleinbetriebe, die der Globalisierung standhalten, die Frankreich jenseits seiner erfolgreichen Weltkonzerne international vernetzen.
Dass sich im Zuge dieser Entwicklung Schaffenskraft und Tüchtigkeit gegenüber Kriminalität und Verbrechen durchsetzen können, zeigt die Verbrechensstatistik im Department Seine-Saint-Denis: Die Zahl der Morde fiel in den vergangenen sechs Jahren um 50 Prozent.«

Verstehen wir uns nicht falsch: Dieser Prozess, diese Funktion der Arrival Citys ist natürlich ein kapital-konformer. Aber er demonstriert, dass die Umwandlung der Städte in Unternehmen nicht auf Gleichschaltung beruhen kann und nicht ausschließlich repressiv zu begreifen ist. Sie setzt eine gewisse Unkontrollierbarkeit der Leute voraus: Diese müssen ihre Kreativität einbringen können, Selbstverwirklichung, die Durchsetzung einer Aufsteigermentalität sind nicht restlos planbar. Repressiv sind in diesem Zusammenhang die paternalistisch-sozialdemokratischen Stadtplanungsfantasien. Aber: »Alle großen Ideen scheitern an den Leuten«, so hätte Brecht das sarkastisch kommentiert. Und er hat allerdings auch geschrieben: »Umwälzungen finden in Sackgassen statt.« Der Eigensinn, der von den Leuten gefordert wird, und der sich in den eben geschilderten Straßenszenen bahnbricht, ist permanenter Restriktion unterworfen. Er ist die Grundlage ihres sozialen Aufstiegs, aber noch lange keine Garantieformel. Es ist kein Wunder, dass der Umsturz in Tunesien vor sechs Jahren oder die große Protestwelle in Marokkoihren Ausgang von der Drangsalierung kleiner Händler nahm.
Wenn es eine Perspektive emanzipatorischer Politik gibt, dann die, dass das Unternehmen Stadt an seinem eigenen Erfolg zerbricht.

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