Linus Volkmann

Der letzte Idiot, der noch “Pokémon Go” spielt

In der Kaput-Redaktion war wie bei allen anderen Lifestyle-Opfern das Interesse zum Start von „Pokémon Go“ immens. Augmented Reality geriet vom öden Meeting-Schlagwort zur realen Sensation. Der Hype daraufhin zeigte sich uferlos. Gleich virtuellen Wünschelrutengängern stolperten Jung und Alt durch den öffentlichen Raum, immer den nächsten Pokéstop vor Augen. Mit dem Ende des Hypes nach wenigen Wochen entfernten sich dann aber schnell die Abermillionen interessierter Zufallsgäste. Zurückließen sie vor allem Kinder, Hängengebliebene, von Coolness Befreite und Leute mit psychischen Störungen. Mit anderen Worten: Die komplette Zielgruppe des Kaput-Magazins.

screenshot_20161115-140341Am Anfang war es noch lustig, Thomas Venker wollte bei einem Treffen wissen, was ich denn da dauernd mit dem Handy mache. Er wirkte ernsthaft ratlos, als ich ihm den Bildschirm zeigte. Ich fühlte mich in die Zeiten der Pubertät zurückversetzt, als mich Mutter entsetzt fragte, was das für ein Krach sei. Grindcore! Aber davon würde sie niemals eine Ahnung haben. Die Arme!
Bei Thomas war es ähnlich. Nur hieß die Antwort diesmal (da hätte ich bereits misstrauisch werden sollen): Pokémon!
Denn so superior ich mich in diesen Sommer mit der App von Niantic fühlte, so sehr ich dachte, dass von Spielern überlaufene öffentliche Orte (gezündete Lockmodule!) das neue Woodstock seien, so unangenehm ist mir das Spiel jetzt im Winter.
Eigentlich ist es auch längst zu kalt, um dauernd das Handy im Anschlag zu haben – ungeachtet von Nieselregen und egal, ob man gerade läuft, Rad fährt oder einen 30-Tonner lenkt. Doch irgendwie habe ich den Absprung verpasst. Zu nagend die Vorstellung, das verdammte Biest mit der Anmutung einer Zecke (Kabuto) nicht weiterentwickelt zu haben. Das muss doch noch zu schaffen sein. Das – und 1000 andere Unterziele in diesem verdammten Fortsetzungsroman. Die „einzigen“ Erfordernisse den dieser dabei an den Betroffenen stellt: Tausende Kilometer zu Fuß gehen mit dem Gesicht vergraben im Handy-Display. Na, dann! Snake und Quizduell habe ich irgendwann überwunden, diesmal bedarf es aber vermutlich Psychopharmaka oder einer Operation, um von der Geschichte loszukommen. Das zahlt die DAK doch niemals, also spiele ich bis auf Widerruf erstmal weiter.
Ach, warum denn auch nicht?

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Neun Gründe, warum “Pokémon Go” eigentlich doch nicht so schlimm ist.

01 Beim Laufen durch die Stadt weniger Aufmerksamkeit für den Straßenverkehr aufwenden müssen. Sollen die anderen doch aufpassen! Bei mir hat da hinten gerade ein Pummeluff gespawnt.

02 Endlich mal neue Gedanken. Selbst wenn es sich vornehmlich um solche handelt wie dieser hier: „Mein Elektek besitzt kein gutes Move-Set dafür aber sehr gute IV-Werte, ob es sich lohnt da die ganzen Bonbons und Sternenstaub reinzustecken?”

03 „Spawnpunkte“, „Gehedged“, „Lapras“, „Inkubator“, „Pinsir“, „Mülltreffer“, „Unlicht“ … Hey, nach all den Jahren mal wieder eine neue Fremdsprache gelernt!

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04 Überraschende Wendungen im Alltag. Hasste zum Beispiel eine Person, die mit ihren Monstern in allen Arenen bei mir um die Ecke sitzt. Der Name ihres Avatars: „ProErikaCologne“. Vermutete dahinter eine circa 50jährige Frau aus einer Rechtsaußen-Partei, die überraschend viel Zeit für Handyspiele besitz. Mein Plan lag auf der Hand: Ihr im Real Life das Handwerk zu legen. Dann entdeckte ich sie, wie sie wieder die Arena an der Esso-Tankstelle rot färbte. Es handelte sich um einen ungefähr neunjährigen Jungen. „Dein Erzfeind ist ein prä-pubertäres Kind?“ schoss es mir durch den Kopf. Lächerlich? Ja! Aber auch die beruhigende Erkenntnis: Wenn ich wollte, könnte ich es hauen.

05 Endlich habe ich mir auch eine Powerbank gekauft. Die mir auch außerhalb von Pokémon Go sehr hilfreich erscheint. Das Samsung S6 möchte zwar mit seinem minderwertigen, nicht wechselbaren Akku den Menschen offensichtlich vor zu viel Smartphone-Zeit am Stück schützen – aber wie ich meine Tage verbrenne, das kann ich ja wohl gerade noch selbst entscheiden!!!!11

06 Das Evoli verwandelt sich bei seiner Entwicklung nicht in das struppige Blitza oder das skillbefreite Flamara – nein, es wird zu einem Aquana mit über 2000 Wettkampfpunkten und Hydropumpe?! Plötzliche Erkenntnis: Es ist doch noch möglich, Glück zu empfinden.

07 Renaissance der Pokémon-TV-Serie. Die gibt es jetzt wieder auf Netflix und ich kann mich erinnern, als ich Ende der Neunziger noch gekifft habe, war das eine Zeit lang meine Lieblingssendung. Phantasievoller hysterischer Quark – und ein Opening-Song, der klingt wie die beste 80er Hardrock-Powerballade, die je geschrieben wurde. Ja, ich weiß, ich bin ein Übriggebliebener – doch auch das kann diesen Hit nicht schmälern. Gönnt euch:

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