Thomas Venker

No Crowd Surfing

Auch wenn es aus heutiger Sicht verblüffend wirken mag, aber 1988 wollte jeder Bad Religion sehen, und so war das Jugendhaus mit dreimal soviel Leuten wie zulässig gefüllt, und die, die es tatsächlich in den Saal geschafft hatten, flogen vom ersten Ton wie Flummis durch den Raum: von der Bühne an die Wand, in den Pit, an die Wand, auf die Bühne… und plötzlich, wie in meinen Fall, durch die Fensterscheibe auf ein davor geparktes Auto.
Eine tiefe Narbe erinnert mich noch heute an diesen wahnsinnig tollen Augustabend.

Eben jene Bad Religion spielten auf dem diesjährigen Øya in Øslo, einem an sich tollen Festival, das jedoch auf sehr prägnante Art und Weise die Probleme von Veranstaltungen im Jahr 2015 auf den Punkt brachte.
Das Logo der Band ist ein durchgestrichenes Kreuz und symbolisiert die Ablehnung jeglicher Religion und der anhängigen Verhaltensdoktrinen ihrerseits, einer der bekanntesten Songs der Band, der sich auf ihrem Klassikeralbum „Suffer“ befindet, heißt „Do what you want“ und der Text geht so:

„Say what you must, do all you can,
Break all the fucking rules and
Go to Hell with Superman and
Die like a champion, yeah hey!”

Eine Aufforderung, der zu folgen gar nicht so leicht ist heutzutage. Neben der Bühne auf der Bad Religion spielten, so wie auch bei allen anderen Bühnen des Øya Festivals, prangerte nämlich ein Schild, das das Crowd Surfing verbot. Nun hätte man auf den Gedanken kommen können, es zu ignorieren, so wie sich das nun mal gehören würde, aber davor war schwer abzuraten: denn gegen die norwegische Security war kein Kraut gewachsen.

Selbst der pure Verdacht einer Straftat reichte in Oslo schon als Anlass für den Zugriff. Ich konnte das aus erster Hand beim nachmittäglichen Auftritt der amerikanischen Drone-Dream-Avantgaristen von Sunn O))) einige Minuten zuvor beobachten. Diese spielten zu diesem Zeitpunkt gerade mal fünf Minuten, da wurde vor mir ein Junge sehr massiv von der Security aus der ersten Reihe entfernt.

Hatte er sich eine Zigarette angesteckt?
Oder gar ein unerlaubtes Foto aufgenommen?

Als er eine Stunde später beim Auftritt von Bad Religion zufällig wieder in seiner weit hängenden Shorts und in der Kutte mit Grimes-Aufnäher vor mir stand, sprach ich ihn an, um zu erfahren, was hier die Gemüter so hochkochen hat lassen, und wie das Intermezzo für ihn nach dem Zugriff weitergegangen war.
Nach einem Moment der Irritation, in dem er mich wohl für einen Undercover-Polizisten gehalten hat, erzählte er davon, wie er sich in der Musik von Sunn O))) verloren hätte – dies habe die Aufseher auf ihn aufmerksam gemacht. Die Unterstellung: Drogenkonsum! Denn nüchtern könne man sich ja schließlich nicht so gehen lassen. Er musste dann erstmal nachweisen, dass er nicht unter dem Einfluss von Substanzen stand.

Da will man doch langsam wirklich nur noch ein lautes „Fuck You“ von sich geben!

Wo soll der Kontrollwahn, der mittlerweile überall herrscht, denn noch hingehen?

  • Rauchen darf man nicht mehr.
  • Die Musik soll sowieso nicht lauter als Zimmerlaustärke sein, denn es könne sich ja jemand die Ohren kaputt machen.
  • Stagediving ist auch passe.
  • Und nun ist auch noch zum Ausdruck gebrachte Emotinalität ein Grund zum Abführen.

Ich kann es nur wiederholen: Fuck You!

Einige Stunden später hat es dann übrigens auch mich erwischt. Ich hatte zwar einen Fotoausweis, mit dem ich legal im Graben die ersten drei Songs jeder Band mitfotografieren / filmen durfte, aber im freien Feld sollte es zu meinem Nachteil werden. Der Head of Security sprang mich mit vollem Elan an, um zu verhindern, dass ich den Moment festhielt, in dem Moodymann und Nile Rodgers sich eine Bühne teilten.

Moodyman & Nile Rodgers (Photo: Thomas Venker)

Moodyman & Nile Rodgers (Photo: Thomas Venker)

Am nächsten Tag kam jener Head of Security allerdings sehr nett auf mich zu und entschuldigte sich. Groll habe ich sowieso keinen auf ihn gehegt, wie man überhaupt die super freundliche Øya Mitarbeiter an dieser Stelle loben muss. Nein, mit der Kritik muss man ganz oben ansetzen. Aber dort sollte dringlichst ein Umdenkprozess einsetzen, denn nicht mehr lange und dann sind Festivals so reizvoll wie ein Elternabend oder das Sommerfest im Altersheim – und dann soll sich mal keiner wundern, wenn niemand mehr vorbeischauen will.

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