Tägliches Bloggen und das Dschungelcamp

“Plemplem-Panoptikum menschlicher Schwächen” – Ein Gespräch mit Anja Rützel

Einen der stabilsten Stars, den das Format “Ich bin ein Star, holt mich hier raus” hervorbrachte, hat man noch nie im Dschungel gesehen. Es handelt sich um Anja Rützel, die bei Spiegel Online seit Jahren regelmäßig über die Perlen (und Säue) im Trash-TV berichtet. Ihre pointierten Kolumnen werden dabei im Nachklapp oft mehr gefeiert als die Sendungen selbst. Die Wahl-Berlinerin hat neben diesem ganz speziellen Fame natürlich auch noch andere Dinge aufgestellt. So arbeitete sie als Redakteurin bei der Financial Times, erfand und verwirklichte das Magazin “Business Punk” und trug letztes Jahr unter anderem Sorge, dass das Nerd-Kompendium “Wired” eine deutsche Entsprechung erhielt. Eine Entsprechung, die vor wenigen Monaten mit dem renommierten Lead-Award (“Bestes Newcomermagazin”) ausgezeichnet wurde. Anja Rützel ist allerdings mittlerweile weitergezogen – und aktuell eben zum Beispiel bei den SpiegelOnline-Dschungeltexten anzutreffen. Ihr hier nun ein paar Antworten zum Thema abringen zu können, stellt eine absolute Herzensangelegenheit dar. Kommando Kakerlake!

12571407_10208541069669565_1312441098_nDu begleitest die Dschungel-Shows mit deinen Texten quasi durchgehend. Wie muss man sich in dieser Zeit deinen Tagesablauf vorstellen?
Ich fühle mich ein bisschen, als hätte ich gleichzeitig Jetlag und Weißweinschorlen-Kopfkater, zusätzlich wird meine Gesichtshaut sonderbar reptilartig, weil ich in diesen 16 Tagen sehr wenig schlafe und dafür wirklich zu alt bin. Tagsüber schreibe ich als Freelancer noch diverse andere Artikel, aktuell für Spex, Manager Magazin und die Neuauflage von Allegra, dann schaue ich mir Abends die Sendung an, esse dazu Cognacbohnen und mache danach ein kleines Schläfchen – früher konnte ich direkt im Anschluss an die Sendung meinen Text schreiben, doch das schaffe ich inzwischen konditionell nicht mehr. Um vier Uhr stehe ich auf, um zu schreiben, um halb sechs muss der Artikel fertig sein, und um acht will dann der Hund auch schon wieder zwei Stunden spazierengehen.

Wie hat es sich ergeben, dass du angefangen hast, über das Dschungelcamp zu schreiben?
Nach 13 Jahren durchgängigem Angestelltendasein als Redakteurin beschloss ich 2013 im Affekt und Verlagszorn, mich als Freie selbständig zu machen, und schickte auch ein paar Arbeitsproben an Spiegel Online. Eigentlich sollte ich dort dann vor allem über Musik schreiben, wie ich es sehr viel früher mal frei nebenher für den Rolling Stone und dann zum privaten Amüsement auch während meiner Zeit als Redakteurin bei der Financial Times getan habe – deren Leser haben sich bestimmt sehr über die ausführliche Hans-Unstern-Besprechung gefreut. Bei Spiegel Online sprang ich dann für einen Kollegen kurzfristig bei der Eurovision-Songcontest-Besprechung ein und schrieb dann seit dem zum Glück doch über Fernsehen statt über Musik.

Die Rezeption von Trash-TV-Artikel bei den (Online)Medien war lange Zeit ein Schlachtfeld. Viele Kommentatoren sahen einen Distinktionsgewinn darin, über das Verhandeln von sowas wie Dschungelcamp bei SpOn zu jammern. Volksverdummung! Zeitverschwendung! Diese Pose (aka „einen Katrin Sass bauen“) scheint mittlerweile viel weniger verbreitet. Hat sich die Qualität von vermeintlichem Trash-TV rumgesprochen oder woran meinst du liegt das?
Die klassischen Bildungsbürger-Unken, die jeden Dschungeltext mit „armes Deutschland“, „warum steht das unter ,Kultur’“ und als Verfall des Abendlandes beklagen, gibt es schon immer noch, allerdings hat sich in den vergangenen Jahren gerade bei Spiegel Online eine sehr interessante Camp-Forumsgemeinschaft entwickelt: Sie findet sich jedes Jahr unter den Artikeln wieder zusammen feiert #ibes in ihren oft sehr amüsanten Kommentaren als das Kulturformat, als das ich es auch sehe: Ein herrliches Plemplem-Panoptikum menschlicher Schwächen, Schrullen und herzerwärmender Weise manchmal auch Stärken, eine klitzekleine Weltbühne, auf der man, wenn man will, Anspielungen auf klassische Dramenstoffe genauso finden kann wie grellsten Trash. Ich lese sonst keine Leserkommentare unter meinen Artikeln, weil ich nicht verrückt bin, aber das Spiegel-Online-Dschungelforum lese ich fast jeden Tag und freue mich, wenn sich dort Leute vom spielverderberischen „Das ist Schund, das kann keinen Wert haben“ emanzipieren.

12575751_10208541038428784_1731772329_nWie bereitest du dich auf eine neue Staffel vor, wie auf jede Sendung? Recherchierst du vor, oder ergibt sich alles beim Zuschauen?
Fast alles ergibt sich beim Zuschauen, vor dem Staffelstart recherchiere ich eigentlich nur über die Teilnehmer, die ich nicht kenne, wie in dieser Staffel David Ortega und Helena Fürst. Beim Zuschauen fallen mir dann, wenn es sehr gut läuft, von selbst irgendwelche Querverweise ein, die ich längst vergessen hatte. Eine schöne Rechtfertigung für all den Krempel, mit dem ich schon so meine Zeit verplempert habe. Irgendwann zahlt es sich eben doch aus, dass man die herrliche Biografie von Helmut Berger drei Mal gelesen hat oder rein privat seit Jahren jede Staffel von „Austrias next Topmodel” schaut.

Neben #ibes hast du schon unzähligen anderen Schrottvogel-Formaten erhellende Texte zur Seite gestellt. Was ist da neben dem Dschungel dein Highlight und vor welcher Aufgabe/Sendung hast du fast kapitulieren müssen?
Das Dschungelcamp ist schon mit Abstand mein Lieblingsformat, aber ich schaue auch gerne den „Bachelor“, weil es mich bei aller Trashroutine und Altersverhärmung immer noch und immer wieder aus Neue fassungslos macht, mit welchen bizarren Lebensentwürfen und Genderschablonen die Menschen da hantieren. Diese Leute und diese Auffassungen existieren, auch wenn man ihnen im normalen Leben nicht begegenet, das ist immer ein ganz guter, wenn auch schmerzhafter Reality-Check zum aktuellen gesellschaftlichen Geisteszustand. Schwierig zu bearbeiten finde ich Formate wie „Schwiegertochter gesucht“, weil es nicht leicht ist, dem Format in der Besprechung angemessen eins mitzugeben, ohne sich mit ihm gemein zu machen und die darin ausgestellten Figuren ein zweites Mal vorzuführen.

Was hältst du für entscheidender, dass so eine Reality-Show wie #ibes funktioniert? Sind es die Kandidaten oder ist es die Inszenierung, die die Produktion aus dem vorhandenen Material macht?
Ich denke, es sind vor allem die Kandidaten und das von ihnen gelieferte Rohmaterial. Dass ohne entsprechende Qualität dieser Verfügungsmasse auch die ausgebufften #ibes-Macher relativ hilflos sind, zeigte sich ja schmerzlich bei der Staffel im letzten Jahr.

Für die aktuelle Staffel hast du bis jetzt viel Lob übrig. Was gefällt dir dennoch (noch) nicht so gut dieses Jahr?
Vor allem im Kontrast zum eben erwähnten Dschungeldebakel im letzten Jahr ist die aktuelle Staffel zwar gleich sehr gut gestartet, doch große Entwicklungen, sei es in den Einzelcharakteren oder in der Kollektiverzählung, sind seit dem eigentlich nicht mehr auszumachen. Stagnieren auf relativ hohem Niveau also, was sich auch in der penetranten Prüfungs-Wiederwahl von Helena Fürst zeigte. Idealerweise gäbe es ja wie in klassischen, fiktiven Vielstaffel-Serien in jeder Folge einen Kleinkonflikt, der innerhalb der Folge auch wieder aufgelöst wird, und einen große, Staffel übergreifenden Handlungsbogen, eben die klassische Heldenreise einer oder mehrerer Figuren. In dieser Staffel ist Menderes der fast schon zu offensichtliche Kandidat dafür.

Ohne die Frage geht es natürlich nicht: Wer ist aktuell dein persönlicher Liebling und wer dein Favorit auf den Sieg?
Schon vor dem Camp war ich großer Rolf-Zacher-Fan, leider war nicht sehr viel von ihm zu sehen – und nun ist er schon raus. Aber ich muss immer sehr lachen, wenn er seine Campkameraden beschimpfte und die es dem vermeintlichen Tatteropa nicht krumm nahmen. Aus professioneller Sicht bin ich natürlich für die Kasalla-Kapriolen von Thorsten Legat sehr dankbar, auch die sensationellen Einlassungen des jetzt eher überraschend abgewählten David Ortega trugen etliche Folgen. Da die Zuschauer bei der Dschungelregentenwahl leider nie den Unterhaltungswert eines Kandidaten berücksichtigen, sondern nach diffuser Sympathie entscheiden oder auch absurde Schein-Tugenden wie Disziplin und Hauruckhaftigkeit belohnen (was die immer noch unverzeihliche Fehlwahl des Busengenerals Melanie Müller erst möglich machte), dürfte bislang auf jeden Fall Menderes gute Chancen haben, was die Sympathieseite angeht. Die Rolle des patenten Camp-Managers ist dagegen noch zu vergeben. Leider bin ich recht leidenschaftslos, was den tatsächlichen Sieger oder die Siegerin angeht – seit Larissa gab es für mich niemanden mehr, der dessen wirklich würdig wäre.

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Selbstporträt mit Hund (und FC-Bayern-Schal, wenn man genau schaut)

 

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