Danielle de Picciotto & Friends in Conversation

Tessa Hughes Freeland: “Ich mag es, wenn Bilder unverständlich zusammenstoßen und dennoch erkennbar sind.“

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Tessa Hughes Freeland (Photo by Laure Leber)

Als die britische Experimentalfilmemacherin Tessa Hughes Freeland Ende der 1970er Jahre nach New York zog, wurde sie schnell Teil der „No Wave Cinema“ Bewegung, die ein Guerilla-Filmstil auszeichnete, der Stimmung und Textur betonte, und zu der neben ihr unter anderem Jim Jarmush, Nick Zedd, Steve Buscemi und Vincent Gallo gehörten. In den 1980er Jahren sollte aus dieser Gruppierung das “Cinema of Transgression” enstehen, ein Künstlerkollektiv, dem es darum ging, schockierende Momente und humorvolle Gesten zu verbinden. Zu den bekanntesten Vertreterinnen gehören neben Tessa Lydia Lunch, John Waters und Richard Kern.

Tessa Hughes Freeland greift mit Ihrer Arbeit die Welt der Normalität auf provokante Weise an. So dokumentiert sie in “Baby Doll” das zwielichtige städtische Stripperinnen-Milieu, und spricht in “Dirty”, einer Zusammenarbeit mit Annabelle Davies, das kontroverse Thema Inzest an. Tessa selbst beschreibt ihre Filme als poetisch anstössig.

Ich habe Tessa erst 2002 kennengelernt, obwohl ich in den 80ern, als ich noch in NYC lebte, viel von ihren Arbeit gehört hatte. Ihre Szene war immer die coolste in der Stadt und ich war unglaublich beeindruckt, als mein Mann Alexander Hacke sie mir vorstellte. Ich musste lächeln und dachte daran, wie eingeschüchtert ich vor Jahren gewesen wäre. Wir aßen mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Carlo McCormick, und ihr zu Abend und die Geschichten, die sie mir über ihre Filmarbeiten und Kollaborationen erzählte, waren beeindruckend.

Tessa Hughes Freeland wurde 2001 Fellow der New York Foundation for the Arts. Ihre Filme werden international in Museen gezeigt. Als Tessa 2012, in den Kunstwerken Berlin ausstellte, lud ich sie ein, an einer Video- / Filmausstellung teilzunehmen, die ich kuratierte und so verbrachten wir mehr Zeit miteinander. 2018 wurde ihre Arbeit im MOMA NYC gezeigt.

Ich freue mich immer Tessa zu sehen. Sie ist eine leise, elegante und intelligente Frau, die alles gesehen, viele Barrieren beim Filmemachen durchbrochen hat und weiterhin eine zentrale Figur in der New Yorker Kunst- und Filmszene ist.

Danielle de Picciotto: Tessa, was möchtest du mit deinen Filmen ausdrücken?
Tessa Hughes Freeland: Ich glaube, dass jeder die Welt anders sieht und wahrnimmt und dass all diese verschiedenen Realitäten gleichzeitig existieren, einschließlich jener unterhalb der Bewusstseinsebene oder außerhalb davon. Menschen sind mehr oder weniger empfindlich für alle Arten von sensorischen Informationen. Es passiert so viel gleichzeitig, dass viele Menschen ausgeklügelte emotionale Filter entwickelt haben, um mit irgendwelchen Gefühlen umzugehen, die unbequem sein könnten. Ich bin daran interessiert, diese Filter zu durchdringen und darüber hinauszugehen um Bereiche von Unbehagen zu erforschen. Ich bin auch daran interessiert, einen Strom von unbewusstem Denken zu kanalisieren.
Meine Arbeit kann vorbereitet sein, genauso gut kann sie aber auch spontan geschehen. Manchmal weichen meine Pläne der Spontaneität, und das gefällt mir am besten, denn so kann sich ein magisches Eigenleben entwickelen, welches am aufregendste und inspirierendsten ist.
Ich erkunde gerne emotionale Zustände wie höllische Selbstzerstörung, rasende Orientierungslosigkeit, erdrückende Schönheit, sanfte Kontemplation, brennende Begierde, explosive Freude, unbeschwerte Phantasie, tiefe Trauer, unkontrollierbare Liebe und intensive Leidenschaft. Ansonsten sind sie mysteriöse traumhafte Abenteuer. Meine Filme sind persönliche Rituale.

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Tessa Hughes Freeland (Photo: Roderick Angle)

Was suchst du generell in Filmen? Was sind deine Lieblingfilme und Lieblingsregisseure?
Ich mag eigenartige Filme, die mich zum Nachdenken bringen genauso wie Filme, die schön anzusehen sind oder mir den Raum geben mich zu verirren oder mich zu umhüllen. Ich suche nach einem Ort, an dem ich entkommen kann. Ich suche nach Schönheit und Tiefe. Ich mag es, wenn meine Filme etwas unheimlich sind oder ein mystisches Element beinhalten. Aus diesem Grund liebe ich Andrei Tarkovsky, besonders “Stalker”. Ich mag Fantasy-Action-Filme, zum Beispiel den Hongkong-Film “Green Snake”. Ich schätze die Art und Weise, wie Michelangelo Antonioni mit Sound arbeitet. Er lässt ihn entweder völlig dominieren oder einfach verschwinden. “The Oberwald Mystery” ist einer meiner Favoriten. Ich freue mich immer, wenn ich auf einen Film stoße, der in einer Fremdsprache mit Untertiteln in einer anderen Sprache synchronisiert wurde. Die Überlagerung schafft eine Verwirrung, die ich liebe. Es ist subtil psychedelisch. Ich liebe die Trostlosigkeit der Menschheit in Filmen von Lars von Trier und deren emotionalen Pathos oder die mysteriöse, intensive Psychopathologie von Dario Argento. Natürlich liebe ich Experimental- und Underground-Filme, vor allem jene von Harry Smith, Kenneth Anger und Storm de Hirsch. Ich habe auch eine schwäche für die alten Hammer-Horrorfilme, mit denen ich aufgewachsen bin. Im allgemeinen mag ich Schwarz-Weiß-Filme, vor allem die von Jean Cocteau. Es ist eine wirklich schwierige Frage, weil ich so viele Filme mag.

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“The Bug – Lost Movie”

Tessa, du produzierst seit über 30 Jahren Filme. Haben sich in der Zeit deine Themen verändert? Ja, definitiv. Viele Dinge haben sich verändert. Ich habe seit jeher neben selbst gefilmten Szenen auch immer collagenhaft mit Found Footage gearbeitet. Ich dachte, dass ich die meisten Bilder, die ich brauche, einfach finden könnte, dass diese Bilder bereits als emotionale Auslöser existieren und ich sie nur so kombinieren und zusammenfügen müsste, wie sie für mich als symbolische Sprache funktionieren würden.
Bei meinen Collagenfilmen war ich nicht so sehr daran interessiert, meine eigenen Bilder zu schaffen. Ich mag es, wenn Bilder unverständlich zusammenstoßen und dennoch erkennbar sind. Für mich ist spontane Transformation psychedelisch.
Bei den Live-Actionfilmen war natürlich die Bildwelt ein Produkt meiner Vorstellungskraft, kombiniert mit dem Diktat der unmittelbaren Umgebung und den Umständen während des Drehs. Man kann nur begrenzt das Ergebnis kontrollieren. Im Laufeder Zeit habe ich mich darauf konzentriert, mehr draußen zu drehen und mich dem Diktat der Natur zu fügen. Ich habe festgestellt, dass ich mich mehr für Landschaft interessiere, aber gleichzeitig meine eigene Bildsprache schaffe.
Ich bin hauptsächlich durch antike Mythologie und mystische Ereignisse geprägt. Obwohl meine Filme figurativ sind, denke ich normalerweise an abstrakte Konzepte in einem romantischen Rahmen. Ich sehe sie als visuelle Gedichte.

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Tessa Hughes Freeland, M.Henry Jones, Michael Wolfe & Heidi Bivens filming “The Bug” (Photo: Laure Lebe)

Tessa, woran arbeitest du gerade?Ich arbeite an einem neuen Film über Erinnerung und Verlust. Ich konzentriere mich auf verschiedene Stadien der Weiblichkeit, unser kollektives Unbewusstes und die Mythologie weiblicher Archetypen als Seherinnen und stütze mich auch auf heidnische Wurzeln. Es geht darum, Mythologie mit der Ironie der Nostalgie zu verbinden. Ich arbeite aktuell auch direkt mit Filmmaterial, zum Beispiel handgemachten Dias von Pflanzen und Tieren oder auch mit handgemachten Filmen, die ich dann in andere Filme integrieren kann, oder die eigenständig abstrakte Filme bilden.

Was sind deine Pläne für die Zukunft?
Ich werde einfach weiterarbeiten und sehen, wohin mich das führt. Ich werde den Ideen folgen, die zu mir kommen. Manche klappen, andere nicht. Ich werde nächstes Jahr eine Show im Howl! Kunstraum in New York haben, bei der es sich um eine Installation handelt, die eine Vielzahl von cineastischen Elementen implementiert. Zudem bin ich für den Winter zu einer Museumsaustellung in Südkorea eingeladen. Darüber denke ich gerade nach. Ich habe mehr Respekt vor dem Ungeplanten als vor dem geplanten. Ich denke, das ist der Plan. Ansonsten werde ich einfach weiter den Fluss hinunter zum Meer fließen.

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