Martin Gore

„Amerika ist mir einfach insgesamt ein bisschen zu optimistisch.”

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Collage: Sarah Szczesny

Ich traf Martin Gore in den Achtzigern, als Depeche Mode in den Hansa Studios Aufnahmen machten und habe ihn über die Jahre immer mal wieder getroffen, wenn sie in Berlin waren. Ich war 2003 für Martins Solotour als Support DJ tätig. Wir haben uns schon immer gerne über Musik unterhalten, Ideen ausgetauscht oder sind einfach zusammen ausgegangen. Er kennt sich sehr gut in der Welt der Indie-Musik aus, ist eine sehr aufgeschlossene Person und es macht einfach Spaß sich mit ihm zu treffen.

Das Album wird unter dem Projektnamen „MG” veröffentlich – offensichtlich eine gekürzte Version seines Namens. Er hatte bereits sein letztes Kollaborationsalbum mit Vince Clarke unter diesem Pseudonym veröffentlicht, damals als VCMG. Aufgrund dessen lag es nahe, dass er bei seinem Soloalbum einen eher abstrakten Ansatz wählen würde und ich sollte Recht behalten: das Album ist stark elektronisch beeinflusst, die Tracks sind rein instrumental, beschäftigen sich mit Schönheit und sind scheinbar frei im Raum angeordnet. Mein erster Gedanke war, dass Martin immer noch Spaß an seiner Arbeit hat, dass er die Musik noch immer liebt.

Manche Tracks sind eher experimentell („Creeper”), manche dunkel und schwer („Swanning“), andere romantisch und filmisch („Europa Hymn“), manche technoid anmutend („Crowly“) und andere wiederum erinnern ein wenig an Pioniere des deutschen Elektro, wie Tangerine Dream („Islet“). Es lassen sich keine Songs finden, die in irgendeiner Art und Weise mit seinem bisherigen Schaffen als Solokünstler oder mit Depeche Mode zu vergleichen wären – es handelt sich also nicht unbedingt um ein sehr kommerziell ausgerichtetes Album. Ich war wirklich von diesem Instrumental-Album überrascht und freute mich sehr über die Gelegenheit mit Martin darüber sprechen zu können, auch wenn wir nur 20 Minuten hatten.

Martin Gore: Hallo Gudrun.

Gudrun Gut: Hi Martin, wie geht es dir?
Gore: Schön von dir zu hören.

Gut: Das ist wirklich eine gute Gelegenheit, um sich ein bisschen zu unterhalten, oder?
Gore: Oh ja. Wie geht es dir?

Gut: Mir geht es gut, danke der Nachfrage! Momentan spiele ich ziemlich viele Liveshows zusammen mit Hans-Joachim Irmler, der früher bei Faust mitwirkte. Mit ihm habe zusammen habe ich ein Projekt mit dem Namen „Gut und Irmler“. Ich habe mir dein neues Album „MG“ angehört und ich muss sagen es ist wirklich fantastisch geworden.
Gore: Oh, vielen Dank.

Gut: Es ist ja eher ein experimentelles Album. Da ich weiß, dass du Lieder liebst und es liebst zu singen, hatte ich nicht erwartet, dass du ein Album dieser Art machen würdest.
Gore: Genau deshalb habe ich diese Richtung eingeschlagen. Es fühlt sich immer gut an, etwas zu machen, von dem die Leute nicht unbedingt erwarten würden, dass du es tust.

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Collage: Sarah Szczesny

Gut: Zugleich finde ich, dass es ziemlich gewagt ist, da du ja als Künstler eher der Riege der Popstars angehörst – wenige deiner Kollegen würden für sich selbst eine Herausforderung dieser Art wählen. Deshalb ist das meiner Meinung nach ja so cool. Und du hast ja auch recht viel zu tun. Wie hast du es geschafft, dir für dieses Soloalbum Zeit zu nehmen?
Gore: Während der Aufnahmen zu dem letzten Album von Depeche Mode hatte ich ein paar Instrumentaltracks geschrieben – also hatten wir im Endeffekt so viele Songs, dass wir nicht so recht wussten, was wir mit ihnen anfangen sollten … Ich hatte vier oder fünf Tracks, die ich wirklich sehr mochte, aber zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wohin mit ihnen. Dann hatte ein Freund von mir die Idee, dass ich doch ein Soloalbum machen sollte und mir gefiel die Idee wirklich gut.

Gut: Ich habe mich gefragt – denn ich weiß, dass es sehr viele Leute in der Welt der elektronischen Musik gibt, die momentan mit modularen Synthesizern arbeiten – benutzt du die auch?
Gore: Ja. Der Großteil des Albums sogar, ich würde sagen in etwa 75 Prozent der Klänge, sind alle in der modularen Welt entstanden. Dort lasse ich mich derzeit gerne inspirieren.

Gut: Großartig. Welche Art von Synthesizern benutzt du denn? Könntest du ein paar Modelle nennen?
Gore: Das hängt natürlich davon ab, woran ich gerade arbeite, aber die meisten Stücke sind im „Eurorack“-Format entstanden – bei den Drums habe ich „Hexinverter“ benutzt. Ich weiß ja nicht, ob dir das etwas sagt…

Gut: Nicht wirklich, ich habe bisher noch keine modularen Synthesizer benutzt … ich frage nur, weil es meiner Meinung nach momentan diese Faszination mit dieser Art von Synthesizern zu geben scheint – Freunde von mir, wie beispielsweise Max Loderbauer, bedienen sich auch dieser Art von Klängen, und auch die Band Driftmachine, mit denen wir eben erst in München gespielt haben, benutzt live ausschließlich modulare Synthesizer. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis der Soundcheck gemacht ist und die Sounds live hergestellt werden können. Aber es sieht toll aus und klingt unglaublich gut und rein. Und deshalb dachte ich mir nur, dass du diese Art von Klängen vielleicht auch verwendet hast. Du solltest dir Driftmachine mal anhören – es handelt sich dabei um Andreas Gerth von Tight and Tickled Trio und Florian Zimmer von Saroos. Sie werden von einem sehr kleinen mexikanischen Label namens Umor Rex Records veröffentlicht.

Ich hätte da noch eine andere Frage für dich: Heutzutage ist es für die meisten Musiker gar nicht so einfach, was das Finanzielle angeht, da es immer schwieriger wird, seinen Lebensunterhalt mit den Plattenverkäufen allein zu bestreiten … da habe ich mich gefragt, ob das dich persönlich auf deinem Level als Popstar auch betrifft? Bist du dadurch freier einfach zu tun, was immer du willst oder machst du das sowieso?

Stille.

Gut: Ich hoffe das macht dir jetzt nichts aus, dass ich das einfach so frage. Ich bin mir dessen natürlich bewusst, dass es immer noch als etwas verpönt gilt, wenn man offen über Geld spricht – aber es ist doch an sich eine interessante Fragestellung, oder nicht?
Gore: (lacht) Ich glaube wir haben ziemliches Glück, denn auch wenn die Verkäufe von Tonträgern insgesamt in den letzten Jahren zurückgegangen sind, haben wir immer noch eine riesige Fanbase und angesichts des allgemeinen Rückgangs sind unsere Verkaufszahlen immer noch beachtlich. Heutzutage verdienen die meisten Bands ihr Geld sowieso damit auf Tour zu gehen. Der Markt für Konzerte ist riesig, größer, als er jemals zuvor war. Es ist nicht so, dass Musik an sich nicht mehr gefragt ist. Es ist wohl nur so, dass Leute sich leider natürlich dazu entscheiden nicht zu bezahlen, wenn sie es nicht unbedingt müssen. Aber das Live-Erlebnis, das bekommt man weiterhin nicht umsonst.

Gut: Thomas (ihr Partner Thomas Fehlmann, Anmerkung der Redaktion) bestellt übrigens Grüße. Er lässt fragen, wie sich deine künstlerischen Ambitionen weiterentwickelt haben.
Gore: Kein bisschen, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Haha.

Gut: Hast du dir dann andere neue Hobbys zugelegt?
Gore: Ob ich mir andere neue Hobbys gesucht habe? Da muss ich einen kurzen Moment nachdenken. Ich habe dich ja schon wirklich seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen. Als wir das letzte Mal in Berlin gespielt haben, warst du ja nicht dabei, oder?

Gut: Ja, da war ich leider nicht da. Ich hatte dich nur ganz kurz bei dem Konzert vor der Show gesehen. Bei Depeche Mode Shows sind ja immer so viele Leute die gerne mit dir sprechen möchten…
Gore: Deswegen ist Berlin auch eine der verrücktesten Städte. Es sind tatsächlich sehr viele Leute da, die versuchen mit uns zu sprechen … okay, jetzt hab’ ich’s. Ich interessiere mich für Dokumentarfilme – ich habe mir die ganze Zeit die verschiedensten Dokumentationen angesehen.

Gut: Nicht schlecht. Ja, die reale Welt da draußen ist tatsächlich sehr faszinierend! Gartenarbeit oder Politik zum Beispiel … es ist ein schmaler Grat … ich habe ja damit angefangen mich politisch zu engagieren, was das Thema von Frauen und deren Geltung in der Kunst angeht. Du weißt ja, wie die Welt der Musik nunmal ist, es gibt einfach nicht so viele Frauen, die bei Festivals als Producer oder Künstler mitwirken und deshalb habe ich mich in den letzten Jahren etwas in Sachen Feminismus stark gemacht. Es gibt diese großartige Frauen-Szene im Bereich der elektronischen Musik, die sich dafür einsetzt, dass Frauen sichtbarer werden und wahrgenommen werden. Die diesjährige Aktion von „female:pressure Women in Tech“ (durch AGF unterstützt) bestand darin Fotos von Frauen bei der Arbeit im Studio zu sammeln und dann online zu posten, damit niemand mehr behaupten kann, dass es keine Produzentinnen gäbe, denn es gibt sie offensichtlich. Wie stehst du dazu?
Gore: Nicht nur im Bereich der elektronischen Musik, sondern allgemein, was Musik anbelangt, sind mehr Frauen tätig als je zuvor. Dadurch entsteht eine Menge interessante Musik. Es scheint also, als ob sich diesbezüglich etwas verändern würde, aber wenn es um die Elektro-Szene geht, finde ich persönlich, dass es immer noch nicht genug Künstlerinnen gibt – ich weiß auch nicht warum. Ich finde es ehrlich gesagt überraschend, da es momentan sehr einfach ist, einen Zugang zu der Szene finden – vielleicht ist es den meisten Frauen einfach zu langweilig.

Gut: Ich glaube nicht, dass es das ist. Die Elektro-Szene ist immer noch ein nerdiger Männerverein, der gerne unter sich bleiben möchte.
Gore: Ist das wirklich so? Ist es so schwierig einen Plattenvertrag zu bekommen und ein Album bei einem Label zu veröffentlichen, nur weil man eine Frau ist?

Gut: Ich denke, dass Produzentinnen nicht unbedingt die besten Freunde der Labelbetreiber sind … und es ist schwierig für Festivals gebucht zu werden. Schau’ dir doch einfach mal die Line-Ups der meisten Festivals an – maximal zehn Prozent der Künstler sind weiblich.

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Collage: Sarah Szczesny

Du lebst jetzt schon seit einigen Jahren in Los Angeles. Fehlt dir Europa?
Gore: Es gibt einige Dinge, die mir fehlen, weil ich nicht mehr in Europa wohne – wie zum Beispiel meine Familie und die meisten meiner Freunde. Ich habe nicht unbedingt so viele Freunde hier in Amerika, wirklich nur einige wenige. Und dann fehlt mir etwas sehr klischeehaft Männliches: mir fehlt Fußball. Ich besitze immer noch eine Dauerkarte von Arsenal. Mit ein wenig Glück schaffe ich es vielleicht gerade einmal zu einem oder zwei Spielen im Jahr. Auf eine etwas tiefergehende Art fehlt mir die Negativität, die so typisch europäisch zu sein scheint. Vielleicht nicht Negativität, dieses Wort erscheint mir etwas zu hart, aber eine gewisse Art europäischer Realismus. Amerika ist mir einfach insgesamt etwas zu optimistisch. Alles ist einfach immer toll. Jeder soll am Besten immer glücklich sein.

Gut: Ich erinnere mich noch gut daran vor einiger Zeit in Los Angeles gewesen zu sein. Mir gefiel plötzlich alles. Mir ging jegliche Fähigkeit Kritik zu üben abhanden. Mir gefielen sogar plötzlich anspruchslose Hollywood-Blockbuster. Als ich dann zurück in Berlin war, löste ich mich wieder davon und konnte gar nicht begreifen, wie anders meine Wahrnehmung in L.A. gewesen war. Ich lebte quasi in einer Art Traumwelt. Das war schon wirklich seltsam.
Gore: Je länger ich nun hier lebe, desto stärker wird mir bewusst, wie korrupt Amerika insgesamt ist. Ich bin mir sicher, dass in jedem Land ein gewisser Grad von Korruption existiert, aber hier ist das Korrupte einfach viel stärker von Grund auf verankert und reicht bis ganz an die Spitze des Systems. Beispielsweise der sehr stark präsente Lobbyismus – ich bin mir sicher, dass dafür anfangs eine Berechtigung bestand. Aber mittlerweile erscheint es mir fragwürdig, dass es für wirklich alles und jeden Lobbyisten zu geben scheint. Jeder, der nur genug Geld bietet, sichert sich dadurch die Aufmerksamkeit von Politikern, die in den Congress gewählt werden möchten. Das ist einfach falsch. Und wenn man nur mal die meisten Arztpraxen betrachtet, sieht man ausschließlich die Pharmaindustrie-Ratten, die die Ärzte und die gesamte Belegschaft zum Essen ausführen. Meinem persönlichen Empfinden nach ist das einfach nicht legal. Sie bestechen Ärzte somit ihnen ihre Pharmazeutika abzukaufen und das wird allgemein akzeptiert. Es ist ein legitimer Teil des Systems und wird wohl niemals geändert werden.

Gut: Das ist eine der vielen Schattenseiten von Kapitalismus. Absolut widerwärtig.
Gore: Andererseits ist das Wetter hier wirklich toll und ich kann mich eigentlich wirklich nicht beklagen.

Gut: Bist du gerade in Santa Barbara?
Gore: Ja.

Gut: Da uns nur noch ein paar Minuten verbleiben – planst du eigentlich mit diesem Album zu touren?
Gore: Ich glaube eher nicht, da die Show dann einen stark visuellen Charakter besitzen müsste. Ich könnte einen Film zusammenstellen, aber dann bleibt ja immer noch die Frage, wie man die Klänge live nachstellen kann, da die meisten Tracks ja ursprünglich mit modularen Synthesizern entstanden sind. Will ich wirklich ein modulares Set-Up und dann versuchen die Klänge nachzuspielen? Es fühlt sich einfach seltsam an, wenn ich darüber nachdenke, das live zu machen. Ich glaube nicht, dass es funktionieren würde. Ich bin einfach froh darüber es fertiggestellt zu haben, es zu veröffentlichen und mich dann wieder neuen Dingen widmen zu können.

Gut: Was steht denn als Nächstes an? Was hast du geplant?
Gore: Songs schreiben für die Band.

Gut: Großartig.
Gore: Wir haben bisher noch keine konkreten Pläne und unser Zeitplan für Depeche Mode ist dieser Tage eher entspannt. Ich bin mir sicher, dass niemand vor 2017 mit einem neuen Album rechnet und ich bin mir auch sicher, dass wir vor 2017 kein Album veröffentlichen werden.

Gut: Ich muss noch einmal kurz auf deine non-existenten Live-Shows zurückkommen. Das ist wirklich schade! Ich hätte „MG“ wirklich gerne live gesehen.

Gore: Ich weiß, aber wie sollte ich das umsetzen? Einen Teil live spielen und mit Backing-Tracks kombinieren?

Gut: Vielleicht sogar wirklich mit einer Band. Natürlich nur Girls. „Martin and the Girls“.
Gore: Ja.

Gut: Ich meine natürlich „MG and the Gs“! Oh. Unsere Zeit ist leider schon abgelaufen. Wir werden wohl gleich unterbrochen werden.
Gore: Es war wirklich nett sich mit dir zu unterhalten, Gudrun. Bestelle bitte allen Grüße von mir. Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Tanita Sauf.

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