Justus Köhncke - CARTE BLANCHETT #2

Groove is in the heart? Groove is now on trial!

Collage: Sarah Szczesny

Collage: Sarah Szczesny

Kann man Gefühle patentieren? Und ist ein sogenannter “Groove” nichts anderes als ein “Gefühl”, nonverbal übertragen durch eine “Rhythmusgruppe”, die aus musizierenden Menschen oder Maschinen bestehen kann?

Gefühle klauen. Das ist doch wirklich nur was für Kaltblüter. Mir tut so etwas weh. Vielleicht können bestimmte Reptilien auf Komodo das – bevor sie zubeißen.

Ein Sample ist nachweisbar ein Zitat oder Klau, den man im Musikgeschäft seit langem klären und bezahlen kann. Nile Rodgers hat mir in einem schönen, ausführlichen Interview-Gespräch 2013 berichtet, wie super er das unüberschaubare Chic-Sampling findet, weil er zumeist korrekt kassiert dafür. Also alles im Lot.

Seit den Musterprozessen in den späten 80ern um “Three Feet High And Rising”, das wunderbare Debutalbum von De La Soul, auf dem ungeklärt schamlos Samples hauptsächlich weißer (!) Pophits von Hall & Oates bis Eurythmics prominent stattfanden, ist dieses Thema juristisch geklärt. Es heißt, im Zuge der Prozesse blieb vom Welterfolg, der das Album war, finanziell nichts mehr übrig für die, und ich betone das Wort in diesem Fall gerne, “Künstler”.

Aber: vor Gericht wirklich total neu als Gegenstand ist die pure Ähnlichkeit eines „Grooves“ (Tempo, Rhythmusarrangement, Betonungen bestimmter Instrumente, Klangbild) zu einem existierenden. Kein Sample und keine 100%-Kopie. Wenn Text und Melodie, diese überholten Steckenpferde des “Komponierens”, des zu verhandelnden Subjekts nichts mit dem “Original” zu tun haben, eröffnet sich eine ganz neue Dimension in der ohnehin schon komplizierten Welt des Musik-Urheberrechts.

Collage: Sarah Szczesny

Collage: Sarah Szczesny

Verklagt jetzt Apple Records Tears For Fears wegen des „I Am The Walrus“-Gefühls von „Sowing The Seeds Of Love“, oder The Jam für „Start“ wegen „Taxman“? Bekommen Laid Back von Prince Schmerzensgeld für „Erotic City“, da sie kurz zuvor „White Horse“ erfunden hatten? Haben New Order und Martin Hannett jetzt Ansprüche an Tocotronic, weil ihre neue Single „Die Erwachsenen“, nur zu Beginn, derart nach „Love Will Tear Us Apart“ klingt? Zitat, Kopie, Referenz, Verbeugung oder Plagiat, dieses inhaltliche und vor allem juristische Minenfeld ist neuerdings noch viel komplizierter geworden:

Ich rede natürlich von dem Urteil, das kürzlich in den USA zu Gunsten der Erbengemeinschaft von Marvin Gaye selig gesprochen wurde, als sie Robin Thicke und Pharrell Williams wegen ihres Superhits “Blurred Lines” verklagt haben. Das grundlegend Neue in diesem Pop-Plagiatsprozess war ja, dass es hier weder um Kompositionsklau (Melodien, Harmonien, Worte) noch um Samples ging, es ging einfach nur um ein Gefühl und den grundlegenden sogenannten Groove – rein technisch-musikalisch wirklich schamlos nah dran. Auch Laien, die sich “Blurred Lines” und “Got To Give It Up” nebeneinander anhören, erkennen das. Interessant, dass Thicke/Williams in vorauseilendem Schuldbewusstsein juristische Schritte eigeleitet hatten, um sich vor Ansprüchen aus dem Hause Gaye zu schützen – ohne Reaktion oder Erfolg. Was jetzt erst ans Tageslicht kam.

Wirklich Mächtige patentieren Saatgut oder Genome und niemand hindert sie daran, auch noch die dazu passenden Pestizide zu vermarkten. Noch nie war das sogenannte “Urheberrecht” so komplex wie heute. Aber wir hier lieben oder machen ja vor allem die Musik, immer noch, leider, hoffentlich, schönerweise.

Collage: Sarah Szczesny

Collage: Sarah Szczesny

Großartig fand ich das Editorial im US-”Rolling Stone” von David Ritz, einem Gaye-Vertrauten und Co-Autor von “Sexual Healing” (!!!!), der entwaffnenderweise von einer ganz anderen Perspektive her den dumpfen Heterosexismus der Thicke-Nummer der Multidimensionalität der so exquisiten Marvin-Gaye-Komposition “Got To Give It Up” gegenüberstellt:

Wie dem auch sei – nun bekam die Erbengemeinschaft also ca. $7M zugesprochen, was ich ausdrücklich begrüße, zumal die Summe auch in keinem Verhältnis zu den Umsätzen von Thicke und Pharrell steht (den ich als Künstler schätze, und ich halte “Happy” im Gegensatz zu vielen meiner Freunde für ein Jahrzehntwerk).

Auf meinem letzten Album, “Wonderful Frequency Band”, hatte ich eine fix und fertige deutschsprachige Adaption von “Got To Give It Up”. Der Gegensatz zu “Blurred Lines” konnte größer nicht sein: mein Sound halt, elektronisch und funky – mit Marvins unwiderstehlichem Originalgroove würde ich es nie wagen, zu konkurrieren – plus „echten“ Backingvocals, Gitarren und Bässen von befreundeten Musikern und einer ziemlich werktreuen deutschen Übersetzung dieses wunderbaren coming-of-age-in-der Disco-Textes, mit dem ich mich, ähem, schon immer sehr gut identifizieren konnte.

Leider wurde mir das im letzten Moment vom US-Gaye-Musikverlag streng untersagt (wir mussten tatsächlich fast das Presswerk anhalten, da die Absage erst nach Monaten ankam). Dafür landete die “Unaufmerksamsblindheit” auf der LP. Auch toll. Ich vermute inzwischen, dass die krasse Absage – “Bitte nehmen Sie sofort Abstand von jeglicher Arbeit mit ‚Got To Give It Up’…“ – schon mit dem damals beginnenden Rechtsstreit zu tun hatte: noch mehr Terror mit “Got To Give It Up” wollte da wohl keiner haben. Warum zeitgleich der umtriebig-begabte Österreicher Pavrov Stellar mit einem durchaus guten Dance-Titel namens „Keep On Dancing“, der auf Original-Marvin-„Got To Give It Up“-A-Capella-Samples basiert, durchkam, ist mir allerdings ein noch größeres Rätsel.

Daher bleibt meine Adaption der Welt vorenthalten, aber unter geht diese davon ja bekanntlich nicht, denn sie wird ja noch gebraucht.

Auf bald auf dieser Welle,

Eure Carte Blanchett

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