Record of the Week

Girlpool „Before the World was Big“

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Girlpool
„Before the World Was Big“
(Wichita)

Dieses Album haben wir bei Kaput ein bisschen liegen lassen, nicht weil es wir es uninteressant finden, ganz im Gegenteil: Girlpool sind ein Sympathinnen-Duo, wie es im Buche steht, und nach der zarten, Riot-Grrrl-inspirierten EP vom vergangenen Jahr mit Hits wie „Slutmouth“ und „American Beauty“ konnte ja nur ein supersweetes Knalleralbum folgen. Oder? Supersüß ist „Before the World Was Big“ allemal, ein Knaller eher nicht so, jedenfalls nicht im Sinne von „knallig“ oder „voller Knalleffekten“. Eher Lo-Fi-Diary-Riot.

Cleo Tucker und Harmony Tividad kommen aus Los Angeles, hielten es aber irgendwann dort nicht mehr aus, weil sie ihr bis dato ganzes Leben dort verbracht hatten und zogen deshalb nach Philadelphia. Jetzt sind sie 19, und haben ihr ganzes Leben noch vor sich, wie meine Oma sagen würde. Tividad und Tucker spielen Gitarre, Bass und ein paar Kinderinstrumente, kein Schlagzeug. Musikalisch bewegen sie sich zwischen frühen Breeders zu „Pod“-Zeiten und Kimya Dawsons Gesamtwerk. Die Songs sind eher schrammelige Skizzen als ausgeformte Kompositionen. Aber wie gesagt, die beiden haben ja noch einiges an zukünftiger Lebenszeit auf Tasche und abgesehen davon halten Girlpool von epischem Mainstreampop (vergleiche auch: Florence and The Machine) sehr wahrscheinlich eh’ nix.
„Before the World Was Big“ besticht durch erstaunliche Rückwärtsgewandtheit, der typischen Haltung von Pre-Twens, in dieser seltsamen Zwischenwelt-Zeit vor dem Erwachsensein zurückblicken zu wollen auf Kinder- und Teenie-Tage, eine Art Bilanz zu ziehen. Oder darüber zu singen, wie es war, als man in „matching dresses“ zusammen draußen gespielt hat, wo man „a million trillion times“ rumgelaufen ist, damals bevor die Welt groß wurde. Das ist toll und schräg zugleich, vor allem für HörerInnen, die schon mehrere Teenie-Lebenszyklen abgespult haben. Girlpool „bringen mir das Gefühl zurück“ (schmockiger Werbespruch eines hessischen Oldie-Radiosenders), aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das immer haben will:

„And all those passing feelings
they never told me what they meant
my eyes are swollen full of people I’ve met“

Und schon ist das Fenster zu meiner eigenen Teenie-Zeit wieder aufgestoßen, vielen Dank auch, da wollte ich eigentlich nie wieder hin. Doch doch, Girlpool sind schon toll, vor allem beim leicht distorteten Opener „Ideal World“, wo sie kaugummizäh gelangweilt singen, „now I’m only certain that no one is free / tranquilize me with your ideal world“. Oder der möglicherweise nie abgeschickte Brief in Songform an Freundin Nora, „there’s a lot that changed this year / I’m still thinking ’bout swimming in Seattle“: das ist so zögerlich, verwaschen-verschwommen und doch kristallklar – irgendwas geht hier gerade für immer vorbei. „Harmony is hyper“.
Kurzum: Girlpool haben meinen vollen und uneingeschränkten Support, aber so richtig wohl fühle ich mich in ihrer Gegenwart nicht (mehr). Ich klopf’ mal nebenan, bei Sleater-Kinney.

Christina Mohr

Nein, ich bin kein wahnsinnig großer Fan von Simon Reynolds und seinem Buch „Retromania“. Ich finde jemanden, der ein schönes Lied schreibt, dass auch vor 10 bis 50 Jahren theoretisch denkbar gewesen wäre, einen schmeichelhafteren Repräsentanten des Menschengeschlechts, als jemanden, der ermüdend detailreiche Lamentos darüber schreibt, dass niemand mehr was neues macht. Reynolds kommt doch vom Punk, D.I.Y., geniale Dilettanten und so. Soll er sich halt irgendein Instrument nehmen und selbst mal versuchen. Dann wird er sehen, wie schwierig das ist.

Aber gut, ich komme vom Thema ab, bei dem ich noch gar nicht war. Girlpool sind zwei Jugendliche, die über sehr jugendliche Dinge singen, zu Musik, die entstand, als ich selbst sehr jugendlich war, und ich kann nicht sagen, dass mich das nicht ein bisschen verstört. Denn wie Engländer und Amerikaner nach einem Bonmot von weiß ich nicht mehr durch dieselbe Sprache getrennt sind, trennt mich von diesen Jugendlichen schmerzhaft die gleiche Musik, und zwar wegen des Bewusstseins, dass es eben für sie eine ganz andere Musik ist als für mich. Für mich war diese Musik irgendwann mal „neu und aufregend“ (Die Heiterkeit), für Girlpool war sie schon immer da, so wie Punk, Blues oder Walzer, eine von vielen Schichten erkalteten Gesteins. Aber das ist ja eigentlich nur mein eventuell, wie mir grade schwant, für Dritte gar nicht so unterhaltsames Problem.

Girlpool also, dritter Versuch, klingen nicht einfach nach irgendeiner Zeit oder irgendeinem Genre, sondern ziemlich präzise nach einer bestimmten Band, nämlich den Breeders. Wie klingt man wie die Breeders? Eine spielt sehr langsame Achtel auf der Gitarre (nicht zu viele Seiten auf einmal). Die andere spielt synchron, aber nicht unisono, dazu Bass. Dann singen beide mit den Deal-Geschwistern nicht zu unähnlichen Stimmen und Akzenten in deutlich größeren Notenwerten wiederum synchron, aber nicht unisono, dazu. Bei den Breeders käme jetzt noch Schlagzeug etc. dazu, aber Girlpool sind nur zu zweit. Auch sind ihre Arrangements harmonisch und anderweitig nicht so ausgefuchst, was nicht schlimm ist, denn lange bevor die Lieblichkeit einen langweilen könnte, ist sie schon vorbei. Das schnelle Dahinschwinden dieser zehn schöne kurze Lieder kurzen Platte passt sehr zu den Coming Off Age-Texten, die jene unschuldige Schwermut (oder übermütige Abgeklärtheit) atmen, die nur Jugendliche können. „Dear Nora“ etwa, eine in Briefform verfasste Dichtung über Sommer und Freundschaft, bildet locker den emotionalen Gegenwert zu einer Staffel „Girls“. Kurz gesagt: die Platte hält, was ihr Titel verspricht.
Jens Friebe

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