Die Mehrheit als Sekte

Auch nur irgendwelche Fahnenträger – Warum der Aufstieg der AfD keine Renaissance des Konservatismus bedeutet

In einem Jahr ist Bundestagswahl. Das politische Koordinatensystem ist jetzt schon zerbröselt, ganz gleich, ob es für Merkels vierte Amtsperiode doch noch reicht oder Sigmar Gabriel die SPD tapfer über zwanzig Prozent hält. Wer die Gründe fürs Zerbröseln sucht, darf nicht da suchen, wo sich lautstark darüber beklagt wird – im Politikbetrieb. Wer dessen Getöse ausblendet, wird darauf stoßen, dass sich hinter dem politischen Wirrwarr keine zerfallende, sondern vielmehr eine über-integrierte Gesellschaft abzeichnet. Wie geht das zusammen? In einer Serie, die monatlich bis zur Bundestagswahl fortgeführt wird, analysiert Felix Klopotek die »Politik der Mitte«, in der sich Aufstieg und Niedergang der politischen Moral exemplarisch verdichten. »Die Mehrheit als Sekte«.

Der Titel »Die Mehrheit als Sekte« bezieht sich dabei auf einen Essay des politischen Psychologen und radikalen Gesellschaftskritikers Peter Brückner (1922-1982), dessen Unbestechlichkeit sich die Serie verpflichtet sieht: »Die Sekte, das ist der soziale Boden, auf dem Reinheitsgebote und Orthodoxie erblühen – bei der Mehrheit der Bevölkerung nur zu fühlbar als die Unduldsamkeit, die keinerlei Einwände gegen den status quo aushält (…); die ›intolerance of ambiguity‹, die den eigenen Zweifel so fürchten kann, dass sie den Anlass für Zweifel ausspeit und sich selbst borniert macht, sich alltäglich dogmatisiert.«

Auch nur irgendwelche Fahnenträger –
Warum der Aufstieg der AfD keine Renaissance des Konservatismus bedeutet
Alle wollen AfD und Neue Rechte bekämpfen, keiner weiß wie. Das ist die große Ratlosigkeit im politischen Betrieb. Die rührt vor allem daher, dass man, konsequent weitergedacht, vor allem sich selbst bekämpfen müsste. Eine Stärke der AfD ist ja, dass sie ganz offen alte CDU- und SPD-Positionen für sich reklamiert, Zitate von Helmut Schmidt postet und frühere Bundestagsreden von Angela Merkel verlinkt, in denen jeweils von den Gefahren der Zuwanderung und des Islams gewarnt wird. Wer aus CDU und SPD die AfD bekämpfen will, müsste sich dem eigenen politischen Erbe stellen und erklären, warum dies keine Geltung (mehr) für das gegenwärtige Handeln hat.

Dies liefe in letzter Konsequenz zu einem klaren Bekenntnis zur offenen Einwanderungsgesellschaft hinaus – das wäre die, immer im Rahmen der parlamentarischen Demokratie gedacht, maximale Gegenposition zur AfD. Oder aber man erklärt das alte rassistische-völkische Erbe für weiterhin gültig, was einer Anbiederung an die AfD sondergleichen gleichkäme und also einer völligen Bankrott-Erklärung. Letzteres Bekenntnis ist ausgeschlossen. Ersteres wird nie ausgesprochen werden, weil das Ziel der Politik nicht in der Erfüllung normativer Setzungen besteht (werden im Feuilleton gerne »Gesellschaftsvertrag«, den gibt es aber nicht), sondern im reibungslosen Ablauf der Geschäfte. Deshalb muss auch das freizügigste Einwanderungsregime für die Politik eine disponible Größe sein. Offene Grenzen sind demnach kein moralisches Gebot, sondern verdanken sich machtpolitischen oder ökonomischen Erwägungen und werden diesen bei Bedarf auch geopfert. Es kommt nicht darauf an, ob es wirklich eine disponible Größe sein kann, ob man also die Grenzen nach Belieben öffnen oder schließen könnte, es kommt auf die Behauptung an, es wäre so. Die AfD vertritt demgegenüber normative Positionen (im Politsprech: »Fundamentalopposition«) und führt so den Pragmatismus oder besser: Zynismus der Regierung vor.

Das Schöne an normativen Positionen ist, dass sie so unbefleckt sind, es sind die hehren Ideale, für die sich immer zu kämpfen lohnt: Das christliche Abendland, das deutsche Erbe … das klingt bedeutungsschwer, aus den Tiefen der Geschichte geboren, alles überstrahlend, ewig dauernd. Aber nichts davon hat den natürlichen (überhistorischen) Kern, der von Nationalisten immerzu reklamiert wird. Auch normative Setzungen verdanken sich materiellen Interessen, die muss man entschlüsseln, dann weiß man … wie man die AfD bekämpft? Nein, warum das Bekämpfen nicht gelungen ist.

Man muss nur aufmerksam lesen, dann werden einem nolens volens die Schlüsselzitate auf dem Silbertablett serviert. In der ZEIT erschien vor knapp vier Monaten ein Briefwechsel zwischen zwei ehemaligen Freunden, der eine bekennt sich zur Neuen Rechten, der andere ist angemessen fassungslos und hat ihm die Freundschaft gekündigt. Siegfried Gerlich heißt der Neurechte, er legitimiert seinen Wandel als Widerstandsakt:

»Wie kannst Du (…) Dich nur mit all diesen Oskar Matzeraths gemeinmachen, die sich aus infantilem Protest gegen ihre Naziväter geweigert haben, politisch erwachsen zu werden, und die noch im saturierten Vorruhestand infantil genug geblieben sind, um pausbäckig für ihre ›bunte‹ Kindergartenrepublik zu werben und auf diesem Wege Dein und mein ›altes Europa‹ abzuwickeln.
Du brauchst nicht um mich zu ringen – besiege lieber Deine kleinmütige Angst vor einem Freund, der doch bloß verhindern will, dass allem, was noch steht und nicht wert ist, dass es zugrundegeht, von den Fanfarenträgern des Fortschritts das Mark aus den Knochen geblasen wird.«

Den letzten Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Der klingt ja fast links. Da möchte man doch gerne genauer hinschauen: Es gab in den letzten 25 Jahren – seit der missratenen Wiedervereinigung – genug Anlass zum Widerstand gegen die neue Weltordnung. Aber bei keiner Verwerfung – innenpolitisch wie außenpolitisch –, bei keinem neoliberalen sozialpolitischen Einschnitt, keiner Aufweichung von Rechtssicherheit, keiner außenpolitischen Willfährigkeit gegenüber der Supermacht USA war nennenswerter politischer und kultureller Widerstand von Konservativen zu vermelden (von den Hardcore-Leuten aus dem NPD- und Horst-Mahler-Umfeld abgesehen, aber wer will schon mit denen zusammen gesehen werden?). Die Konservativen gehörten zuverlässig zur Partei des globalen Neoliberalismus, der Konservatismus bot keinerlei Ressource des Widerstandes und des Non-Konformismus. Erkannt hatte dies der klügste, sensibelste und also opportunistischste aller Konservativen, nämlich Frank Schirrmacher, der in einem seiner letzten stilprägenden Essays offenbarte: »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat.« Schirrmacher hypte in der Folgezeit den Anarchisten David Graeber (»Schulden. Die ersten 5000 Jahre«) und veröffentlichte eine Abrechnung mit dem Optimierungswahn (»Ego«). Nun war Schirrmachers Wende nach links nicht nur nicht glaubwürdig – sie sollte es auch gar nicht sein. Vielmehr sollte sie der konservativen Klientel ihre eigene Hohlheit vorspiegeln. Gebracht hat das nichts, denn alle Themen, die Schirrmacher an oberster Stelle auf die Agenda schrieb – Casinokapitalismus, Technologiekritik, Kritik der Psychotechniken der Selbstoptimierung – spielen außer Lippenbekenntnissen im intellektuellen Diskurs der Neuen Rechten keine Rolle.

Der Stilisierung des Konservatismus zum letztmöglichen Widerstandsakt haftet etwas Falsches an – sie ist nicht authentisch, sie ist nicht selbstkritisch (wo doch feiste Selbstzufriedenheit den linken und liberalen Strömungen genüsslich vorgerechnet werden), sie ist nicht visionär – sie bietet keinen Zukunftsentwurf an, der mehr wäre als eine unmittelbare Reaktion auf Merkels letztjährige Flüchtlingspolitik. Aber was ist sie dann? Der Auftakt zum kaum verhohlenen Rassismus – die Fiktion einer ethnisch homogenen Gemeinschaft. So lautet jedenfalls die Standardkritik. Aber sie greift zu kurz: Diese Fiktion, das dürfte auch dem härtesten Rassisten aufgegangen sein, ist fadenscheinig. In einem Land, in dem jeder fünfte Deutsche eine migrantische Biographie vorweisen kann, wird eine völkische Ideologie, nun ja: heimatlos. Hinter das Bekenntnis der Regierung, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, wollen nur die offenen Nazis zurück. Der Neuen Rechten geht es um die »richtige« Einwanderung, um Obergrenzen, christliche (oder europäische) Einwanderung, Einwanderung von Fachkräften, kurzum: um harte Selektion.

Der Wunsch nach einer offensiven Re-Ethnisierung des Staats- und Gesellschaftsverständnisses Deutschlands, entpuppt sich als Begleitmusik zur Regulierung des Arbeitsmarktes. AfD-Politik konsequent durchgesetzt bedeutete nicht mehr »Ausländer raus«, also der faschisierte 80er- und 90er Jahre Konservatismus, sondern eine drastische Reglementierung des Arbeitsmarktes. Bestimmte Bevölkerungsgruppen – vorzugsweise die migrantischen – würden von vornherein ausgegrenzt, der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten würde begrenzt, der Mindestlohn abgeschafft, Millionen Menschen würden in die offene Prekarität getrieben – einen zweiten und dritten vierten Arbeitsmarkt, aus denen es keinen Aufstieg in die tariflich und sozialpartnerschaftlich geregelte Zone gäbe. Dass die AfD als wirtschaftsliberale Partei mit gewerkschaftsfeindlichen Leitsätzen antrat, sollte dabei nicht vergessen werden: Von diesen Ursprüngen hat sie sich, auch wenn der Partei(mit)gründer Bernd Lucke, der kaum für Rassismus, sondern eben für Armen- und Arbeiterverachtung stand, schon länger geschasst ist, nie distanziert.

Die »ethnische Homogenität«, die die AfD und ihre rechten Vordenker als Ausweg aus allen Krisen unserer Zeit anpreisen, ist de facto ein Programm der sozialen Segmentierung. Damit steht die AfD keinesfalls abseits jenes Mainstreams, den sie aus ganzem Herzen verachtet. Der Arbeitsmarkt ist schon heute rassistisch strukturiert. Dazu bedarf es keiner AfD. Ihre Leistung besteht vielmehr in der Moralisierung dieses status quo: Manche Leute haben es qua Herkunft mehr verdient, dazu zu gehören, während die Zugezogenen und Geflüchteten sich hinten anstellen müssen. Dieser Nationalismus verspricht, die mörderische Konkurrenz untern den Arbeitswilligen bei ihrer Suche nach halbwegs anständigen Jobs durch eine Grenzziehung – wer gehört dazu und wer nicht – still zu stellen. Aber dadurch, dass ein riesiges Herr prekarisierter, abgekoppelter Arbeiter die Konsequenz dieses Nationalismus wäre, erhöht sich paradoxerweise der Druck auf die »Privilegierten«. Denn die müssten ja jetzt, wo die anderen abgedrängt und ausgeschlossen sind, produktiv sein. Und wenn sie es nicht sind?

SPIEGEL TV hat sich bei einer Recherche in Freital die Mühe gemacht, einen besonders gehässigen, in KZ-Phantasien schwelgenden Facebook-Kommentator ausfindig zu machen. Sie stießen auf einen bemitleidenswerten Ein-Euro-Jobber, der von einer »Initiative zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen« ohne Aussicht auf Erfolg betreut wird. Eine ergreifend traurige Szene. Denn man weiß sofort: Diese Leute sind es, die von der Rechten aus der Tiefe ihres Gemüts als lebensunwert angesehen werden. Sie wären nach den Geflüchteten die nächsten, die es nicht verdient hätten, zur deutschen Schicksalsgemeinschaft zu zählen.
Text: Felix Klopotek

Felix Klopotek lebt und arbeitet in Köln. Beschäftigt sich seit geraumer Zeit damit, was haitianische Revolutionäre und ukrainische und polnische aus dem 19. Jahrhundert gemeinsam haben und wie sich dies in der kommunistischen Dissidenz des 20. Jahrhunderts widerspiegelt: Bausteine zu einer Universalgeschichte aus Sicht der Ausgegrenzten und Niedergedrückten.

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