Ein Kommentar zum #wirsindmehr-Konzert gegen Rassismus von Aida Baghernejad

Unter Karl Marx’ kritischem Blick

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Photo: Christoph Voy

Wow. Wie soll man diesen Tag bloß zusammenfassen? All die Ängste im Vorfeld, all die Diskussionen über die Sinnhaftigkeit der Veranstaltung, die grauenhaften Berichte und Videos von letzter Woche, Sonntag, Montag, Samstag – und dann diese wahnsinnige Energie, diese wundervolle Stimmung in Chemnitz, Tausende und Abertausende Menschen aus überall, aber vor allem aus Chemnitz und dem Rest Sachsens selbst, die großartigen Reden der lokalen Aktivisten in der Begrüßung, all das hat uns unfassbar glücklich gemacht und Kraft gegeben durchzuhalten, Kraft gegeben, wenigstens für einen Nachmittag zu glauben, dass vielleicht doch nicht alles furchtbar ist, dass wir vielleicht, ganz vielleicht, doch mehr sind.

Eine Welt, in der Antifaschismus schon als extrem gilt, in der wird die Luft zum Atmen knapp. Erst für Menschen wie mich, weiblich, muslimisch, Migrationshintergrund, dann auch vielleicht für dich. Faschismus und Rassismus sind verlockend in Zeiten immer knapper werdender Ressourcen, sozialer Ungerechtigkeit, in Zeiten des Umbruchs, wenn Sicherheiten sich auflösen. Genau deswegen gilt es eben jeden Tag dagegen zu halten, in egal welcher Form: Kritik, Selbstkritik, starke Netze schaffen, aufeinander aufpassen und immer wieder auch dahin gehen, wo es wehtut. Ideologisch und auch real, auch physisch.

Antifaschismus bedeutet auch Zusammenhalt. Und der zeigte sich gestern in Chemnitz an vielen Stellen, besonders im Kleinen. Zum Beispiel am Stand der Leute, die kostenlose Knäckebrot-Sandwiches schmierten und verteilten, oder der Gruppe junger Antifas, die ein paar Eltern ein stressfreies Konzert ermöglichten, indem sie deren Töchter auf die Schultern nahmen. Es zeigte sich am an den Ständen der Initiativen im Bereich der Kulturarena an der Stadthalle, wo viele vorbeikamen um ein paar Aufkleber mitzunehmen und sich zu informieren, wie auch an der Bühne des Berliner Clubs ://about blank, wo Fremde und Freunde unter Karl Marx’ kritischem Blick zu Großstadttechno auf der Straße ravten. Und natürlich zeigte es sich auch auf der Bühne, in den Ansagen der Künstler, allen voran Trettmanns emotionalem Kommentar, dass er auch auf der anderen Seite stehen könnte, kommt er doch genau aus der Gegend in Chemnitz, wo die Nazis seit Jahren versuchen eine “national befreite Zone” einzurichten.

Es war eben nicht “nur ein Konzert”, wie es Kritiker der Veranstaltung im Vorhinein unkten und es hatte auch so gar nichts mit “tanzen auf dem Grab des Opfers” zu tun, wie Beatrix von Storch geifernd twitterte. Die Stimmung war fröhlich und ausgelassen, aber auch respektvoll und dem Anlass angemessen. Nirgends war das offensichtlicher, als in der Schweigeminute, als die Stille laut über die Innenstadt tönte und in den Reden der Initiativen, die sich seit vielen Jahren einsetzen für ihre Stadt, die versuchen, dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen. Denn Chemnitz ist nicht irgendwo: Hier sitzt eines der einflussreichsten Rechtsrocklabels, hier entstanden Szeneorgane.

Den Initiativen, den lokalen Bündnissen und den einzelnen Aktivisten gebührt unser grenzenloser Respekt. Sie fahren nach den Demos, Festivals und anderen Veranstaltungen gegen Rechts nicht nachts wieder nach Hause, sondern sie bleiben in Chemnitz, Heidenau, Dresden, Freital oder Rostock und müssen jeden Tag dagegenhalten. Die sich sehr oft eben nicht wie die Mehrheit fühlen. Weil die Mehrheit vielleicht stumm ist oder sich nicht traut. Ihnen wollen wir sagen: Ihr seid mehr. Wir stehen alle hinter euch. Nicht nur gestern, sondern auch heute, morgen und übermorgen.

Und nicht zuletzt denken wir auch an die Familie und die Freunde des Mordopfers Daniel H. Sie müssen mitansehen, wie sein tragischer Tod instrumentalisiert wurde und wird. Für sie und die lokalen Initiativen gegen Rechts wurde gestern im Publikum und auf den Straßen Geld gesammelt. Das wird ihn nicht zurückbringen, aber die Familie in dieser verdammt harten Zeit unterstützen.

Was in Chemnitz passiert ist, hat das Fass für die stumme und oft auch behäbige Mehrheit zum Überlaufen gebracht. Ein Konzert, ein Festival, eine halbe Stunde Campino auf der Bühne wird nichts von heute auf morgen verändern. Doch es geht darum, sich die Straße und den Diskurs Stück für Stück zurückzuholen. #wirsindmehr war ein erster Schritt. Von hier gehen wir gemeinsam weiter.

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Photo: Christoph Voy

 

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