Danielle de Picciotto & Friends in Conversation

Jo Quail: “Je mehr ich schreibe, aufnehme oder aufführe, desto mehr erkenne ich, dass ich so viel noch nicht weiß”

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Photo: Simon Kallas

Ich habe Jo Quail 2016 in London kennengelernt. Wir haben beide am gleichen Abend gespielt und es sind mir sofort drei Sachen bei Ihr aufgefallen: wie sehr ihre Fans sie zu lieben schienen, wie professionell und vorbereitet sie war, und wie unglaublich nett sie ist.

Ich erwähne das, weil ich es immer besonders mag, talentierte Künstler zu treffen, die es schaffen, natürlich und freundlich zu bleiben. Nach Jahren der Zusammenarbeit mit Neurosen und Befindlichkeiten muss ich sagen, dass mir die Attribute Bescheidenheit und Freundlichkeit genauso wichtig geworden sind wie Charisma und Talent. Alles andere sind nur Energiefresser, und trotz der Möglichkeit, brillante Kunstwerke zu erschaffen, geht es einem dabei und danach schlecht. Ich denke auch, dass Höflichkeit zu einem neuen modernen Attribut in der Kunst- und Musikwelt geworden ist. Die neue Generation scheint dies stärker zu betonen als die letzten und zusammen mit Inklusion, Empathie und Sensibilität, entfernt sie sich von der ego-getriebenen “verrückten Künstler/in” oder „Rockstar-Haltung“ der Vergangenheit. Wir haben möglicherweise eine neue Ära von Künstler/innen die nicht in Selbstzerstörung badet, wie es seit Anfang des 19. Jahrhunderts gepredigt wurde und was der Kunst nicht unbedingt geholfen hat, sondern die sich und andere darin unterstützen neue Wege der Interaktion in einer interaktiven Welt zu finden. Dies öffnet viele neue Türen und Wege die ich als extrem inspirierend empfinde.

Jo Quail hat all diese schönen Eigenschaften und ist eine der talentiertesten und innovativsten Cellospieler und -Komponisten die man heute erleben kann. Sie schreibt kontinuierlich neue Musik, tourt nonstop und arbeitet mit unzähligen wunderbaren Musiker/innen wie Anna van Hausswolff, Winterfylleth, Soricah und Myrkur zusammen. Sie macht auch faszinierende Live-Online-Workshops, bei denen sie erklären, wie sie komponiert.

Ihre Show in London im Jahr 2016 war beeindruckend. Joanne ist eine Meisterin darin Melodien und Rhythmen zu loopen, ihre Kompositionen sind frisch und modern und klingen dennoch wie zeitlos klassischer Musik mit tiefschönen Klangwelten. Sie ist viel auf Tournee und wenn man sich ihren Zeitplan anschaut, ist sie bereits bis Ende 2018 gebucht. Wenn Ihr also eine ihrer Shows sehen könnt, verpasst es nicht, man wird sehr schnell süchtig danach. Ich freue mich sehr, Jo Quail heute hier zu präsentieren.

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Photo: Stephane Lord

Danielle de Picciotto: Wie und warum hast du Cello als Instrument gewählt?
Jo Quail: Ich begann mit 6 Jahren Cello und Klavier in dem „Centre for Young Musicians“ in London zu spielen und machte bis zur Universität weiter, als ich in Leeds Musik studierte. Ursprünglich wollte ich eigentlich nie Cello spielen, tatsächlich sagte ich ‘nein danke’, als das erste unglaubliche Angebot an kostenlosen Musikstunden in meine Grundschule kam. Glücklicherweise wurde später noch ein Platz in der Klasse verfügbar und ich nahm ihn dann in der ersten Klasse an, um in der Schule aus irgendeinem anderen Fach herauszukommen, und so sitze ich nun hier, immer noch dankbar dass ich diese Gelegenheit hatte meine Meinung zu ändern; die Gelegenheit, die mein Leben verändert hat. Die Musik, die ich schreibe, ist ‘kinematisch’, weil es kein besseres Wort dafür gibt, das Wort ist manchmal etwas zu schwerfällig für das was ich mache , lässt aber auch den Raum zu den mein Musikstil braucht…. Ich habe das Privileg, sehr aufgeschlossene Musikfans zu haben die sich für Klassik, Post Rock, Post & Black Metal, Gothic, Electronica (ja das ist ein Begriff)und sehr alternative Musik interessieren und ich liebe jede einzelne Aufführung, egal ob “Gig” oder “Konzert”.

Nach was suchst du in deinen Kompositionen?
Jo: Meine Kompositionen müssen das haben, was ich “Integrität” nenne, sie müssen für mich musikalisch Sinn machen und für jedes Stück “richtig” sein. In den meisten meiner Konzerte spiele ich als Solistin, und ich mache meine Musik mit meiner BOSS RC300 Loop Station und dem GT100 FX Board. Ich bevorzuge es jedoch, diese zwei erstaunlichen Pedale als Teil meines Setups zu sehen, so wie mein Bogen und meine Saiten es sind, nicht als ein Medium, das meine Musik definiert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier wirklich Erfolg habe, aber das ist meine Absicht. Ich versuche, mit meiner Technologie Grenzen zu durchbrechen, und ich mache keine Loops ohne Grund. Ich stelle sicher, dass jede Note und jeder Satz Sinn und Richtung hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass meine Kompositionen unabhängig davon, was geloopt wurde oder nicht, eigenständig stehen müssen, und ich versuche, die Looping-Funktion in einem seriellen Kontext zu verwenden. Da ich nicht singe (zumindest nicht auf der Bühne – ich mache eine Menge zu Hause mit meiner 6-jährigen Tochter und ihren Freundinnen) kann ich mich nicht auf den üblichen Vers und Refrain Kontext verlassen, also muss ich fähig sein meine Kompositionen auf eine natürliche und sinnvolle Weise zu entwickeln, in der zB Harmonie oder Rhythmus erweitert werden, oder ein sich langsam öffnendes Motiv zu einer Basslinie die Hauptmelodie wird. Wenn etwas geloopt wird, ist es immer mit einem Gedanken verbunden, nicht einfach nur so.

Ich habe einige meiner Kompositionen sowohl mit professionellen Orchestern und Chören als auch mit Amateur-Ensembles hier in Europa und in Australien aufgeführt, und das ist etwas, was ich liebe und mir sehr wichtig ist. Es ist ein Privileg, mit Cappella Gedanensis (Polen) zu arbeiten und zusammen ein ganzes Programm meiner Werke zu spielen und ebenso ist es inspirierend, mit Chören und Ensembles unterschiedlicher Herkunft aufzutreten. Eines meiner Stücke, “This Path With Grace”, wurde speziell für das elektrische Cello und für Ensembles mit gemischter Instrumentierung geschrieben. Ich habe dieses Stück mit Orchestern, Chören, Cello-Ensembles und gemischter Instrumentierung bearbeitet und dann in den letzten vier Jahren mit unterschiedlichen Ensembles aufgeführt.

Ich würde gerne sagen, dass ich einen spezifischen Prozess habe, wenn ich schreibe, aber die Realität ist eher nicht so. Manchmal entstehen die Stücke aus einem “Fehler”, den ich beim Üben des Standardrepertoires mache, manchmal spiele ich einfach mit einer Effektkette herum und es entsteht ein ungewöhnlicher Klang, der eine völlig neue Arbeit in Gang setzt. In allen Fällen weiß ich, dass meine Stücke aus etwas entstehen, was ich DNA nenne, es ist ein sehr kleines Motiv, es könnte rhythmisch oder tonal sein oder etwas anderes, es ist kurz und prägnant, und dieser winzige Aspekt kann eine ganze 15-minütige Arbeit aufbauen . Das ganze Stück kann auf diesen ersten Faden zurückgeführt werden, und ich liebe die Kontinuität, die ich auf dieser Weise erarbeite.

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Wie erlebst Du das Leben einer freiberuflichen Cellistin?
Ob Weiblich oder männlich, wenn du ein freiberuflicher Musiker und ein Elternteil bist, musst du unglaublich gut organisiert sein! Ich habe ein viel beschäftigtes Leben zu Hause, und ich könnte nicht das machen, was ich tue, das heißt die Menge an Reisen, ohne die Unterstützung von meinem Mann, meiner Familie und meinem Manager. Die Tatsache, dass meine Tochter ein sehr entspanntes Kind ist und an unserem Kommen und Gehen gewöhnt ist hilft auch sehr. Sie ist meine Priorität, und solange die Dinge zu Hause gut geregelt sind, werde ich mit diesem etwas verrückten Leben fortfahren. Ich bin dieses Jahr mit Amenra und Boris als Support-Künstler getourt und hatte eine Reihe von solo Konzerten, darunter zwei für Robert Smiths Meltdown Festival im South Bank Centre was mich sehr ehrt.

Ich habe nur meine eigenen Erfahrungen als freiberufliche oder selbständige Musikerin. Ich denke sie sind immer sehr individuell. Ich merk allerdings, dass meine eigenen Touren entweder als Solistin oder als Support-Künstlerin zunehmen, und meine Session-Verpflichtungen abnehmen, ich vermute das ist eine natürliche Kurve. Ich kann nicht mehr so viel wie früher machen, da ich mehr Verpflichtungen in Sachen Tourneen und dergleichen habe, aber ich genieße die Zusammenarbeiten die mir heutzutage entgegenkommen trotzdem sehr.
Ich habe kürzlich auf Poppy Ackroyds neuestem Album “Resolve” gespielt und live bei Myrkur bei den Metal Hammer Awards hier in London und in Roskilde als Teil ihres “Folkesange” -Projekts gespielt. Beides waren unglaubliche Erfahrungen. Ich hatte in den letzten zwei Jahren zwei erstaunliche Tourneen mit dem US-Post-Rock-Giganten Caspian, und habe sehr viel von diesen Musikern gelernt. Es war jede Nacht eine Meisterklasse in Bühnenkunst. Je mehr ich schreibe, aufnehme oder aufführe, desto mehr erkenne ich, dass ich so viel noch nicht weiß und entdecken kann und das finde ich wunderbar.

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Photo: Simon Kallas

Where ziehst du deine Inspiration?
Es klingt vielleicht ein wenig platt als Antwort, aber es inspiriert mich buchstäblich alles. Es fühlt sich so an, als ob wir alle den kreativen Taktstock aneinander weitergeben, wie ein kontinuierlicher Prozess der keineswegs auf Musik beschränkt ist. Inspiration nimmt alle möglichen Formen an, sei es eine sanfte Meditation beim Einkaufen, ein entspanntes Nachdenken über die Aktivitäten der nächsten Wochen, während du im Zug sitzt, ein Sandwich oder ein Gedicht. Was ich sehe, höre und fühle, wenn ich meine täglichen Aktivitäten ausführe, inspiriert mich, sei es als ein tatsächlicher Klang oder als ein Eindruck oder eine Empfindung, die ich vermitteln möchte. Musik ist eindeutig eine direkte Inspiration, und ich höre alle Arten von Musik, aber ich würde gleichermaßen auch Kunst und Skulptur als Inspiration nennen.
Meine letzte Platte wurde von der Barbara Hepworth Ausstellung “Sculpture for the Modern World” ins Leben gerufen, als sie von der Tate Modern in London in das Arp Museum in Bonn zog und ich eingeladen wurde, dort ein Konzert zu geben, um diese schönen Dinge zu feiern. Es war eine große Ehre für mich, die Musikerin zu sein, welch die Arbeit dieser unglaublichen Künstlerin klangtechnisch interpretieren sollte, und meine kommende Platte wurde durch diese Aufgabe geboren (obwohl das Stück, das ich eigens für diesen Anlass geschrieben habe, nicht auf meinem neuen Album ist). Die Landschaft um mich herum inspiriert mich auch sehr, ich schreibe oft über ein bestimmtes Küstenstück in East Sussex, besonders auf meinem zweiten Album “Caldera”, wo drei Stücke (The Hidden Forest 1, 2 und Adder Stone) die Landschaft von Pett Level erkundet. Einer meiner ständigen Inspirationen ist TS Eliot, insbesondere “Four Quartets”. Ich kehre immer wieder zu dieser Arbeit zurück, und jedes Mal, wenn ich meine abgegriffene Kopie öffne, auch wenn nur zufällig, finde ich etwas, das mit dem, was ich tue, oder mit dem ich mich musikalisch befasse, mitschwingt und spricht. Seine Worte, Tempo, Intention, und auch der Raum, den er uns lässt, um eigene Interpretationen zu finden, ist sehr bewegend. Ich hoffe, das sich dies in gewisser Weise in meiner Musik widerspiegelt.

Woran arbeitest du gerade?
Ich habe gerade mein viertes Album mit Chris Fielding in den Skyhammer Studios aufgenommen und es wird vom Komponisten James Griffiths gemastert. Momentan beende ich gerade den Titel Track. Als nächstes folgt die Aufnahme eines speziellen Bonustracks für die Vinyl-Veröffentlichung und das Sortieren des Artworks. Später in diesem Jahr habe ich zwei große Support-Touren, eine mit MONO und die zweite für Myrkur, und ich plane ein paar sehr schöne Aufnahmen mit Woclensmen. Außerdem stelle ich gerade ein spezielles Konzertrepertoire zusammen, mit Stücken aus all meinen vier Alben, was mir die Möglichkeit bietet, einige ältere Werke wieder zu entdecken und zu prüfen, wie Sie sich neben meinen neuen Kompositionen beweisen. Ich bin sehr darauf gespannt.
Ich arbeite auch an einigen Kompositions- und Performancevorbereitungsworkshops, nach einem wirklich tollen Lauf im letzten Jahr, einschließlich des Unterrichtens am Sage Gateshead und dem MRC Melbourne. Ich genieße es mit Studenten zu arbeiten, ob mit einzelnen Schülern oder Gruppen, beides macht mir Spaß.

Was sind deine Zukunftspläne?
Ich werde meine neue Platte im November dieses Jahres veröffentlichen, deswegen ist momentan viel los. In naher Zukunft werde ich viel Zeit damit verbringen, Sibelius auf meinem Computer anzuschauen! Ich orchestriere die gesamte neue Platte für ein komplettes Orchester und Chor und arbeite auch mit einigen großartigen Musikern zusammen, um eine Band-Version zu präsentieren. Ich plane, mit dieser Platte zu touren und ein spezielles Konzert im späten Frühjahr zu spielen, bei dem ich dieses Album auf drei Weisen präsentiere: Solo, mit Orchester und mit Band. Wir werden sehen, was passiert. Ich würde gerne nach Polen zurückkehren, um 2019 mein Projekt mit Cappella Gedanensis auch unter der Leitung von Jos Pijnappel zu performen.
Abgesehen davon gibt es viel Alltag für mich, den Kauf von Schulsachen, den Versuch, im August marineblaue Trainingsanzüge zu finden, sich zu fragen, ob alle genug Gemüse gegessen haben, sich darüber Sorgen zu machen wie voll wohl der örtliche Pool nach der Schule am Freitag sein wird und meinem Gitarrenbauer für seine schnelle Bogenreparatur zu danken… Die üblichen Sachen.
Danke für das Gespräch mit mir!

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