Julien Baker

“Ich glaube übrigens nicht daran, dass die Zeit alle Wunden heilt.”

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Julien Baker (Photo by Nils Rodekamp)


“I just wanted to go to sleep, but when I turn out the lights,
there’s no one left between myself and me.”
(“Turn Out the Lights”)

Als vor knapp zwei Jahren Julien Bakers Solo-Debütalbum herauskam, behaupteten nicht wenige, dass das die traurigste Platte seit „Closer“ von Joy Division sei. Auf „Sprained Ankle“ verarbeitete Baker in spartanischen Arrangements (nur Gitarre und Vocals) persönliche Verluste, Angst und Einsamkeit, widmete sich mit frappierendem Ernst den großen Sinnfragen des Lebens – nicht wirklich ungewöhnlich für eine Singer-/Songwriterin. Julien Baker entpuppt sich bei näherem Hinschauen/-hören allerdings als besonders faszinierend:

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Julien Baker (Photo by Nils Rodekamp)

Die Gitarristin, Sängerin und Komponistin ist christlich, queer, begann ihre musikalische Laufbahn in der Hardcoreband Forrister und stammt aus dem mythenbeladenen Süden der USA, aus Memphis, Tennessee: ein Paket aus Widersprüchen, scheinbar.

Auch dass Baker trotz der beinah schmerzhaften Intimität ihrer Songs gern auf der Bühne steht und die Nähe zum Publikum sucht, möchte man zunächst kaum glauben – aber sie betont es im Gespräch mehrfach, und überhaupt ist Baker eine so freundliche, höfliche Person, dass man sich sofort mit ihr verbunden fühlt, selbst wenn man nicht mit all ihren Überzeugungen mitgeht. Ihrem Glauben beispielsweise: Gott, Gebete und Kirchgang sind selbstverständliche Bestandteile ihrer Lyrics, auch auf dem neuen Album „Turn Out the Lights“ (Matador Records / Beggars Group / Indigo), obwohl sie sich nicht als Missionarin verstanden wissen will. „Der Glaube an Gott gehört einfach zu mir. Mehr kann ich dazu gar nicht sagen. Ich erwarte von niemandem, dasselbe zu empfinden.“
Aber wird sie nicht öfters von Fans um Rat gefragt, von Menschen, denen es vielleicht schwerer fällt als ihr, Queerness, Linkssein, Popkultur und den eigenen Glauben (oder Zweifel) unter einen Hut zu bringen? Sie muss ein bisschen lachen, „Ja, für manche bin ich so etwas wie die Kummerkastentante. Manchmal sagen mir Leute, dass meine Songs sie bei ihrem Coming-Out unterstützt hätten – ich antworte dann, ‚das hast du ganz alleine geschafft’!“

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Julien Baker (Photo by Nils Rodekamp)

Bei aller Bescheidenheit besitzen Bakers Songs hohes Identifikationspotenzial, zumindest wenn man die eigenen Abgründe nicht scheut. „Turn Out the Lights“ entstand während einer psychisch sehr anstrengenden Phase für Julien: „Ich dachte, dass es nicht schlimmer kommen kann. Ich glaube übrigens nicht daran, dass die Zeit alle Wunden heilt – Glück ist flüchtig, man kann sich nicht daran festhalten und man sollte nicht darauf warten. Aber man kann sich der Freude öffnen, wenigstens für einen Moment.“

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Julien Baker (Photo by Nils Rodekamp)

Diese zart optimistische Haltung drängt sich nicht unbedingt auf: Songs wie „Sour Breath“, die Single „Appointments“ oder „Even“ thematisieren ausweglose, im Grunde schon beendete Beziehungen.
Aber, darauf besteht Julien, „Turn Out the Lights“ ist weniger introspektiv als „Sprained Ankle“ – Bakers Öffnung zur Welt zeigt sich auch in der variationsreicheren Instrumentierung, neben ihrer Gitarre sind Streicher und Holzbläser zu hören, die den Songs mehr Fülle und klangliche Tiefe geben. „Jedes Instrument hat eine eigene Persönlichkeit und eröffnet neue Möglichkeiten für meine Songs – das schätze ich sehr. ‚Sprained Ankle’ war sehr reduziert, sehr einfach produziert. Aber ich habe mich weiterentwickelt in den vergangenen zwei Jahren, das soll man auch hören.“

Apropos Entwicklung: Als sie ihr Debütalbum aufnahm, war Julien gerade mal 18, inzwischen ist sie 22 Jahre alt. Stört es sie, dass buchstäblich jeder Artikel über sie, auch dieser, ihr jugendliches Alter thematisiert? „Nein, warum sollte es das? Es stimmt ja auch, ich BIN jung, das kann ich nicht abstreiten. Aber natürlich möchte ich, dass meine Songs davon unabhängig betrachtet werden. Ich hoffe nicht, dass meine Themen an eine bestimmte Lebensphase gebunden sind.“

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Julien Baker (Photo by Nils Rodekamp)

Ob es Songs auf der neuen Platte gibt, die ihr schwer gefallen sind, möchte ich wissen: „’Shadowboxing’ und ‚Televangelist’ sind eigentlich Gedichte, waren gar nicht als Musikstücke gedacht. Eher für Spoken-Word-Auftritte, die ich ja auch manchmal mache. Dann habe ich es doch versucht, aber es war nicht leicht, Melodien für diese Texte zu entwickeln.“ Live spielt sie alle ihre Songs, auch auf Festivals wie dem New Fall in Düsseldorf, wo sie Mitte November auftreten wird – auch wenn man ihre Musik im kleinen Rahmen eines Clubs besser aufgehoben wähnt.
Sie selbst hat kein Problem mit unruhigen Crowds – stört es sie nicht, wenn Leute reden oder rumlaufen während ihrer naturgemäß eher leisen One-Woman-Show (bei den anstehenden Konzerten wird Julien von ihrer Band begleitet)? Auch auf diese Frage antwortet sie mit bewundernswerter Langmut: „Ich denke mir, dass ich ja nur ein Teil der Abendunterhaltung für die Leute bin – die haben vielleicht den ganzen Tag gearbeitet, freuen sich jetzt darauf, ihre Freunde zu treffen, zu quatschen, ein Bier zu trinken, und dazu Musik zu hören. Es stört mich nicht, wenn sich im Publikum unterhalten wird. Das nimmt mir den Druck. Weißt du, was viel schlimmer ist? Wenn es totenstill ist im Raum – das ist wie in dem Albtraum, wenn du in Unterwäsche in deiner Examensprüfung sitzt.“

 

 

Julien Baker live:

  • 14.11.17 Heimathafen Neukölln, Berlin
    15.11.17 Uebel & Gefährlich, Hamburg
    16.11.17 New Fall Festival, Düsseldorf
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