Querbeet durch die Berlinale – eine Entdeckungstour, Teil 3

Etwas aus dem Takt geraten

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Sonja Moonear in “Denk ich an Deutschland in der Nacht”, von Romould Karmakar (Photo: Arden Film)

Man könnte meinen, nach so vielen Filmen gerät einem im Kopf alles durcheinander. Zumindest Nachts, im Traum. Aber komischerweise träume ich während der Berlinale nicht. Es ist fast so, alles würden die Filme für mich Träumen.

Donnerstag
In den Filmen wird auch geträumt, zum Beispiel  am Donnerstagmorgen. Der Tag beginnt ruhig – und unerwartet lustig. Mit „On the Beach at Night alone“ setzt der Koreaner Hong Sangsoo seine Beobachtung orientierungslos Suchender fort. Die Schauspielerin Younghee streift fremd durch eine Stadt. Sie ist nach dem Ende ihrer Affäre mit einem älteren, verheirateten Mann ins Ausland gegangen – nach Hamburg. Dort trifft sie eine Freundin, mit der sie sich über das Leben austauscht. Irgendwann trägt sie ein Unbekannter einfach aus dem Bild. Dann scheint der Film zu Ende zu sein, es kommt ein neuer Vorspann: Jetzt ist sie wieder in Korea und trifft alte Freunde. Auch hier redet man über das Leben. Ganz beiläufig, nicht hochtrabend, und gerne auch betrunken. Sangsoo ist ein stiller Beobachter, und eine Nähe zu Eric Rohmer kann man seinen Filmen nicht absprechen. Aber mittendrin überrascht er einen mit seinem entwaffnend albernen Humor.

Der zweite Wettbewerbsbeitrag des Tages kommt von Marcelo Gomes.“Joaquim“ erzählt die Geschichte des brasilianischen Nationalhelden und Freiheitskämpfers Joaquim José da Silva Xavier alias Tiradentes, der zunächst als Zahnzieher, dann im Militär arbeitete und schließlich auf Grund der Ausbeutung seines Landes durch die Portugiesen zum Freiheitskämpfer wurde. 1792 wurde er hingerichtet. Der Film schildert, wie in Tiradentes das langsam aufkommende Gefühl der Ungerechtigkeit in Wut umschlägt. Bevor es richtig losgeht, ist der Film überraschend zu Ende. Irritation beim Publikum. In Brasilien kennt die Geschichte jedes Kind. Gomes skizziert daher lieber die Spannungen der ethnischen Mischung und sozialen Schattierungen des Landes zwischen Ureinwohnern, schwarzen Sklaven, Portugiesen und Nachfahren der Eroberer.

Auch das kann passieren: Weil rappelvoll, muss ich das schwarzweiße Coming of Age- und Coming Out-Drama „Weirdos“ von Bruce McDonald (Sektion Generation 14plus) in der ersten Reihe mit einem Abstand von circa fünf Metern zu der monströse Leinwand von 8 x 19 Meter sehen. Bei Dialogen kommt man sich wie bei einem Tennisspiel vor und muss den Kopf ständig hin und her schwenken, bei Nahaufnahmen kann man die Gesichter nicht mit einem Blick erfassen. Dafür kann der Film nichts. Allerdings hält sich der Ärger über den schlechten Sitzplatz in Grenzen. Denn das freundliche Roadmovie übers Erwachsenwerden bleibt harmlos. Das Schwarzweiss und die Ansiedlung in der Mitte der 70er Jahre scheinen auch weniger erzählerische Notwendigkeit denn Gimmick zu sein.

Dass der Wettbewerb so wenig Radikalität in solch radikalen Zeiten zeigt, löst allmählich Unruhe aus – nicht nur bei mir. Vielleicht muss man für radikales Kino in die Vergangenheit reisen. Zum Beispiel mit „ORG“ von Fernando Birri. Realisiert von 1967 bis 1978 ist die dreistündige Collage – laut Birri eine Reaktion auf die Krise der Linken wie des Kinos – zugleich ein visueller und akustischer Frontalangriff als auch eine energetische Kinoerfahrung. Im Zentrum steht die Adaption einer Erzählung von Thomas Mann um eine Frau zwischen zwei Männern (einen davon spielt Terrence Hill, der den Film auch mit finanziert hat), in den Ring wird aber auch alles nur erdenkliche Archivmaterial geworfen, das dann nach allen Regeln und natürlich vor allem gegen alle Regeln des (experimentellen) Films kombiniert und bearbeitet wird – in insgesamt über 25.000 Schnitten, mit Mehrfachbelichtungen, Übermalungen, Flickereffekten etc. Ähnliches passiert auf der Tonspurt, die wie die Bilder überblendet, zerhackt und perforiert wird. Eine ganz und gar psychedelische, mitunter psychotische Erfahrung mit kathartischer Wirkung, die an Kenneth Angers „Invovcation of my Demon Brother“ (1969) erinnert, nur 15 mal so lang ist!


Freitag
Der Freitag beginnt vielversprechend: Liu Jians Film markiert eine Seltenheit im Wettbewerb, denn Zeichentrickfilme haben dort kaum Platz. „Have a nice Day“ ist eine Art Film Noir in einer chinesischen Kleinstadt. Der Diebstahl einer Tasche mit Geld löst eine Katastrophe nach der anderen aus, und bald kriegt jeder sein Fett weg. Der Film ist eine kurze und kurzweilige, schwarzhumorige Allegorie auf Globalisierung und Raubtierkapitalismus, bis zum bitteren Ende in schönen Zeichnungen gehalten.

Als zweites steht der rumänische Film „Ana, mon amour“ von Călin Peter Netzer auf dem Programm, der Hoffnung auf einen letzten Höhepunkt macht. Mit seinem Film „Mutter & Sohn“ hat er auf der Berlinale bereits 2013 den Goldenen Bär gewonnen. Ob es dieses Mal reicht? Sicherlich gehört sein komplexes, in der Chronologie zerlegtes Beziehungsdrama zu den besten Wettbewerbsbeiträgen dieses Jahres. Toma und die psychisch labile Ana sind ein Paar, die Rollenverteilung in dieser ungleichen Beziehung wird schnell klar und bald auch zum Problem. Netzer erzählt abgesehen von der Struktur der Geschichte schnörkellos mit einer Kamera, die genau hinguckt, ohne ablenkende Filmmusik aber mit dezenten Irritationen in der Tonmischung.

Kurz vor Schluss noch mal alles geben! Rainer Werner Fassbinders vierstündiger Fernsehzweiteiler „Welt am Draht“ von 1973 läuft in der Retrospektive „Future Imperfect“ mit Science Fiction-Filmen. Die Verfilmung des Romans „Simulacron-3“ von Daniel F. Galouye entfaltet ähnlich wie „Matrix“ einige Jahrzehnte später ein mehrschichtiges Weltmodel,in dem die obere Welt die untere als Simulationsmodell entworfen hat. Science Fiction haben retrospektiv oft etwas niedliches, weil die Welt längst weiter ist als die Utopie oder Dystopie, die sie entwerfen. Hier darf man sich an bestem 70‘s Style erfreuen. Obendrein ist der Film auf eine Art überinszeniert, die einen nie genau sagen lässt, ob man gerade campen Humor oder unfreiwillige Komik (beispielweise bei Klaus Löwitschs Männerposen) erlebt – überall stehen halbnackte schwarze Bodybuilder rum.
Dass das in den frühen siebziger Jahren im deutschen Fernsehen lief: sagenhaft! Mir fällt auf, dass ich zunehmend mit der Leinwand verschmelze. Die andauernden Kopfschmerzen, die Klaus Löwitsch im Film plagen, schleppe ich die nicht auch seit Tagen von Kino zu Kino? Und die zweite, simulierte Welt im Film – laufe ich nicht selber seit zehn Tage durch eine Parallelwelt? Lieber mal ausschlafen …

Samstag
Am Samstag ist dann tatsächlich fast Schluss. Da ich bislang so gut wie alle Berlinale-Parties ausgelassen habe – am Ende noch ein Partyfilm. Beziehungsweise ein Film über Party. Romuald Karmakar porträtiert mit „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ die deutsche Technoszene. Exemplarisch greift er sich Ata, Move D, Roman Flügel, die Schweizerin Sonja Moonear und abermals Ricardo Villalobos, dem er 2009 bereits einen ganzen Film gewidmet hat, heraus. Karmakar zeigt sie beim Auflegen und Produzieren und hat Interviews mit ihnen gemacht. Vor allem letztere sind durchsetzt mit erhellenden Gedanken zu Musik und Gesellschaft und dem Leben an sich. In den Partyszenen verfremdet Karmakar die Szenen mitunter, indem er als Ton den Kanal verwendet, den die DJs gerade versuchen, über Kopfhörer einzucuen. Was immer die Idee zu diesem Kunstgriff war: Ungefähr so fühlt man sich nach zehn Tagen Berlinale – etwas aus dem Takt geraten.

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