24 Stunden "Divers" von Joanna Newsom

“Kammermusik und dieser unausstehlich affektierte Gesang”

Wohin man auch schaut: Jedes Magazin feiert Joanna Newsons neues Album „Divers“ bereits jetzt als Platte des Jahres und Meilenstein. Mindestens. Mit ihrem kalifornischem Hippietum gilt sie als betörende Ausnahmeerscheinung, dank ihrer prachtvolle Epen als die Archäologin der Zeit. Die größte Pop-Künstlerin ihrer Generation erschafft rauschhafte, surreale Klangwelten. Sven Kabelitz hat den Selbstversuch gemacht. Der Hundefreund setzte sich 24 Stunden lang der Katzenmusik aus. Nichts für schwache Nerven.

bbbiiBei all den Lobpreisungen steigt in mir die Neugierde, es nach unserer letzten gescheiterten Begegnung mit „Have One On Me“ noch einmal miteinander zu versuchen. Was ist dran, am Hype um die Harfenspielerin, Komponistin und Sängerin? Was steckt hinter dem Phänomen Newsom? Nach 3:53 Minuten des Openers „Anecdotes“ ist mir speiübel und mein Auge zuckt wie das von Charles Dreyfus, sobald er den Namen Clouseau hört. Liegen die anderen so falsch oder habe ich etwas nicht verstanden? Zeit für einen Selbstversuch. Kann man sich Musik schönhören? Ich gebe „Divers“ 24 Stunden. Für die Momente, in denen ich nicht an meinen Rechner sitze, ziehe ich mir das Album auf mein Smartphone.

26.10.2015 07:08 Uhr
Der erste Durchgang. Langsam aufbauende Streicher, zwitschernde Vögel, Klavier. Folk, Kammermusik, Avantgarde- und Baroque-Pop und dieser unausstehlich affektierte Gesang. Alles hier schreit dir ins Gesicht, dass du gerade ganz großer Kunst beiwohnst. “Sending the first scouts over, back from the place beyond the dawn: Horse, bear your broken soldier, eyes frozen wide at what went on.“ Das muss man jetzt nicht zwingend mögen. Das sollte man eher zwingend meiden.

biii26.10.2015 07:15 Uhr
„Sapokanikan“. Die Geschichte des Indianerdorfs, auf dem heute Manhattan steht. Es klingt, als hätte Newsom einen Stapel Kate Bush-, Tori Amos- und Celtic Woman-CDs aufeinander gestapelt, darauf herumgetrampelt und diese an den unmöglichsten Stellen wieder zusammengebabscht. Sie schichtet um, zerlegt, baut neu auf. In diesem künstlerischen Ansatz verlieren die Songs jede Emotion, verkommen zu einer Art Pop-Karikatur. Bereits jetzt habe ich Lust auf etwas leichte Muse. Alle Björk-Platten. Gleichzeitig. Rückwärts.

26.10.2015 08:00
Die erste Runde habe ich mit knapper Not überlebt, die zweite beginnt. Ich habe Angst, versuche mich auf Arrangements (Nico Muhly und David Longstreth) und Texte zu konzentrieren. Diese übertriebene Perfektion, dieses Übermaß, das ständig ins Großtuerische und unerträglichen Kitsch kippt und keine Intimität zulässt. Alles dreht sich um Liebe, Vergänglichkeit und den Tod. Streberhaft lässt Newsom das Album in „Time, Is A Simpton“ mit „Trans…“ enden, um es in “Anecdotes”, mit dem Wort “Sending” zu beginnen. Das ist wirklich so was von Legen… – Moment, es kommt gleich…

bie26.10.2015 09:37
Der dritte Durchgang. Ohne groß darüber nachzudenken, spiele ich einen Teil von „A Pin-Light Bent“ auf meiner Ukulele nach. Ist das alles am Ende gar nicht so kompliziert? Oder werde ich gerade größenwahnsinnig? Newsom singt so ungekünstelt, wie es ihr möglich ist, von ihrem Versuch, der Zeit zu entkommen. “In our lives is a common sense / That relies on the common fence / That divides and attends / … / Until the time is spent, is a pin-light, bent.” In diesem kurzen Augenblick spiegelt sich im Umkehrschluss jedoch wieder, wie gestelzt ihr Vortrag, der ausschließlich auf Andersartigkeit drängt, an anderen Stellen ausfällt.

26.10.2015 12:07
Mein Hund Balthasar, eine spanische Promenadenmischung, mag Gassi gehen. Im vom Herbstlaub geschmückten Wald ergibt die verzaubernde Schönheit von „You Will Not Take My Heart Alive“ erstmals Sinn. Ich möchte die Welt umarmen, mich in bunten Blättern wälzen, mit Vögeln sprechen und mich mit Eichhörnchen paaren. Balthi sieht das vollkommen anders und nutzt seine Chance. Jaulend rennt der Hund vor Newsoms Stimme davon. Bisher ward er nicht wieder gesehen.

26.10.2015 13:33
„Waltz Of The 101st Lightborne“. Newsom stolpert über Flöten, Quetschkommoden und Geigen, singt vom Krieg und hat ihren eigenen Songs schon lange selbigen erklärt. Kennt ihr diese Szene in „Casino Royale“, in dem Le Chiffre James Bond nackt auf einen Stuhl bindet und mit Seilschlägen in die Kronjuwelen malträtiert? Er meint, es sei das Einfachste der Welt, einen Mann zu foltern. Ich würde gerade so gerne mit 007 tauschen.

26.10.2015 15:78
Sprachdingens unt modorische Fähigkeiten lassen mas iv nach. In meinen Augenwinkeln sehe ich schwarze Schatten zucken, die gar nicht da sind.  Schuhu. Wahnwitz. Mehruhag. Rumburak. Penis. Mein Auge ist taub.

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Hund: Balthasar

26.10.2015 17:39
Schon wieder „Sapokanikan“. Die Kassiererin im Supermarkt macht sich auf Grund meiner blassen Gesichtsfarbe, den durchgeschwitzten Klamotten und meiner unkontrollierten Äußerungen ernste Sorgen. Auf dem Einkaufsband liegen eine Zitrone, ein Tamburin, die Brigitte und ein Kokosriegel. Letzterer kann auf Grund meiner Kokosallergie als Hilferuf verstanden werden. Am Fenster rennt jaulend ein verstörter Hund vorbei.

26.10.2015 18:57
Ich sehe Hoffnung. Im rechten Mittelohr hüpft der Hammer vom Amboss. Alles wird gut.

26.10.2015 20:21
Was geschieht mit mir? Ich beginne „Leaving The City“ mitzusummen. Zeigt die seit 13 Stunden andauernde Dauerpenetration erste Auswirkungen? Langsam verlässt mich mein Hass. Newsoms Stimme verliert ihren Schmerz. Beim einsetzenden Schlagzeug groove ich vorübergehend sogar mit. Das kann doch nicht wahr sein. Was hat all dies zu bedeuten? Worüber soll ich mich als neidischer Musikkritiker nun definieren? Ich beginne, mir ernsthaft Sorgen um meine berufliche Zukunft zu machen.

27.10.2015 0:12
Kurzzeitig übermannte mich der Schlaf. In einer surrealen Traumsequenz fand ich mich im Wohnzimmer aus „The Big Bang Theory“ wieder. Dr. Bernadette Maryann Rostenkowski-Wolowitz (Gesang) und Dr. Amy Farrah Fowler (Harfe) hatten eine Band gegründet, Dr. Dr. Sheldon Lee Cooper anhand von linearen Gleichungen die Aufeinanderfolge der Akkorde berechnet.

27.10.2015 02:59
Ich bin Balthasar, der König des Waldes. Ich bin der Schatten, das Rascheln, der Tannenzapfen. Ich renne. Ich rieche das Reh, den Dachs, das Leben, den Tod, den Pferdeapfel. Ich bin die Welt, das Hecheln, der Wahnwitz, die Eule, der Eidechsenkönig. Zeit ist ein Symptom, das Stöckchen die Regeneration.

27.10.2015 06:29
Das Ende ist nah. Ein letztes Mal höre ich „Time, As A Symptom“. “Love is not a symptom of time / Time is just a symptom of love.” Die Kinder des Waldes, deren Zwitschern und Gurren das Stück durchziehen, winken zum Abschied. In dieser besonderen Situation empfinde ich Hoffnung, Erlösung. Der mit Streichern und Pauken überfrachtete Track beginnt, Sinn zu ergeben. Ein Loslassen, in dessen schwärmerischem Pomp sich bereits Nostalgie einschleicht. Wir sind nicht die besten Freunde, aber erstmals respektieren wir uns.

27.10.2015 07:08 Uhr
Vorbei. Endlich vorbei. Mit einer Punktlandung beim Titelstück „Divers“ endet das törichte Selbstexperiment. Was hat sich verändert? Ich kann das Album mittlerweile ohne große Schmerzen hören. Manche Melodie ist sogar hängen geblieben. Teilweise konnten wir uns annähern. Trotzdem bleibt mir Joanna Newsom, ihre übertriebene Interpretation, ihre Texte und ihre viel beschworene Magie fremd und zu gestellt. Nur weil es der allgemeine Geschmack vorschlägt, lässt sich keine Liebe erzwingen. So funktioniert Musikhören nicht, und dafür ist die Zeit auf unseren Planeten, wie Joanna Newsom ja selbst singt, zu knapp bemessen. Falls mich jemand braucht: Ich bin draußen und suche meinen Hund.

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